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Anne, Köln/Reykjavík
„Nicht jeder Mensch ist gleich begabt fürs Glück, es gehört eine Menge Mut dazu.“
Anne! Was arbeitest du – und wie kam es dazu?
Ich bin als Schriftstellerin tätig.
Gefühlt schon seit ich fünf Jahre alt bin, denn seitdem schreibe ich jeden Tag. Zunächst ins Tagebuch, später auch als Journalistin und als Autorin fürs Radio und Fernsehen.
Mein allererster Ghostwriting-Job waren Reden für eine EU-Politikerin.
Der erste Fernsehjob war beim Kinderfernsehen. Ich schrieb Serien für Nickelodeon, wurde Regie-Assistentin für eine US Kinofilmproduktion.
Lange Zeit war ich hinter den Kulissen tätig, arbeitete als Talentscout für die Missfits-Show im WDR Fernsehen, schrieb Witze für Fernsehunterhaltungsshows, wie „7 Tage – 7 Köpfe“ bei RTL und für Kabarettistinnen für die Bühne.
Alles, was die Verdichtung von Texten betraf, kam auf herrliche Weise zu mir, von der täglichen Radio-Politglosse, über Features und Hörspiele bis hin zum Werbetext.
Ein Drehbuch brachte mich schließlich an die US Westküste.
In San Francisco angekommen, bekam ich plötzlich so viele Anfragen von Sendern aus Deutschland, dass ich vier Jahre lang blieb. Ich glaube, ich habe mich noch nie an einem Ort so zuhause gefühlt, wie in Nordkalifornien.
In Deutschland hieß es immer „Du musst dich für etwas entscheiden“, aber hier konnte ich endlich einfach kreativ sein und fand ein Umfeld, in dem all meine Talente plötzlich gewollt waren, konnte mich wesentlich freier entwickeln und schaffte es mit Leichtigkeit, in der Filmbranche dort Fuß zu fassen.
Parallel dazu arbeitete ich als freie Korrespondentin fürs europäische öffentlich-rechtliche Radio und Fernsehen. Die Frau, die bis dahin standardmäßig alle deutschen und österreichischen Sender versorgt hatte, war gerade nach Neuseeland gezogen, es gab also eine riesige Lücke und fast täglich News aus dem Silicon Valley und der ganzen Bay Area.
Was ich an San Francisco auch so mochte, war der Arbeitsethos meines gesamten Umfeldes– in Deutschland war mir bis dahin immer vorgeworfen worden, ich sei ein „Workaholic“, hier schwamm ich plötzlich im Strom derer, die genauso arbeiteten und die Lebensqualität am Pazifik war gleichzeitig durch das Leben am Pazifik sehr groß.
Dabei erlebte ich einen interessanten Effekt, der eintritt, wenn du 9000 Meilen und 9 Stunden Zeitverschiebung entfernt tätig bist: Du arbeitest wesentlich konzentrierter, wenn während deines normalen Tages die Bürozeiten in Europa längst beendet sind.
So blieb Zeit für größere Projekte. Zwei Bücher, die ich als Ghostwriterin annahm, brachten mich auf die Spur. Eines davon wurde enorm erfolgreich und auch wenn mein Name nicht auf dem Cover stand, bekam ich dadurch ein Gefühl dafür, dass ziemlich viele Leute lesen wollten, was ich verfasst hatte. Das änderte etwas in meiner Selbstwahrnehmung als Schreibende. Es machte mir klar, dass ich mehr zu sagen hatte, als das, was als Film oder Radiostück schneller verpuffte.
Kurz darauf hatte ich ein einschneidendes Erlebnis. Ich wurde mit einem meiner Dokumentarfilme auf ein europäisches Filmfestival eingeladen, das die Richtung meines Lebens vollkommen verändern sollte: Die Aschewolke des isländischen Vulkans Eyjafjallajokull hinderte mich und drei weitere Regisseurinnen daran, zurück in die USA zu fliegen. Während der fünf Tage, die wir miteinander wartend auf den Rückflug verbrachten, erfuhr ich die Geschichte von hunderten deutscher Frauen, die 1949 aus Deutschland nach Island gegangen waren und deren Geschichten bei uns vollkommen unbekannt waren. Das gab den Impuls. Ich war mir dessen bewusst, dass wir alle ihre Geschichten kennen würden, wären sie Männer gewesen, reiste nach Island und stieß auf eine unglaubliche Story, denn diese Frauen hatten alle nie über ihre Motive gesprochen, warum sie Deutschland verlassen hatten. Sie hatten ihre Biografien nicht einmal mit ihren isländischen Familien geteilt. Ich plante eigentlich einen Dokumentarfilm darüber und bekam, bevor ich zu drehen beginnen konnte, das Angebot von einem Verlag, erst mal ein Buch darüber zu schreiben. FRAUEN FISCHE FJORDE wurde ein Bestseller und so seltsam es klingen mag, dieses Buch machte mich zur Schriftstellerin. Den Film dazu drehte ich übrigens nie.
Gerade gab ich das Manuskript zu meinem achten Buch ab.
Was begeistert dich an deiner Arbeit?
Mich begeistert die Vielfalt dieser Tätigkeit, es erfüllt mich, dass ich einerseits lange und tiefgreifende Recherchen machen kann, zum Beispiel weltweit in historischen Archiven grabe und gleichzeitig Menschen befrage, ihre Geschichten erzählen darf, ihre Erfahrungen einfließen lassen kann und dann wieder diese ganz stillen, hoch konzentrierten Phasen des Schreibens habe. Den Fokus zu vertiefen.
Manchmal denke ich, ich bin im richtigen Moment ins Schriftstellerinnenleben geworfen worden, denn ich drehe oft aus einem alten Impuls heraus erst einmal Filmsequenzen mit den ProtagonistInnen meiner Bücher und nehme Töne auf und das passt gut in unsere Zeit, weil es mir leicht fällt, das alles dann in den entsprechenden Kanälen zu teilen, wenn die Bücher erscheinen. Mir macht diese Vielfalt unglaublich viel Freude. Und ich habe schon bei meiner zweiten Lesung etwas entwickelt, von dem ich nie wusste, dass das in mir schlummert. Ich hatte mir nicht klargemacht, dass ich doch viel über Bühnendramaturgie lernte, als ich fürs Unterhaltungsfernsehen und für die Bühne schrieb. Und so kam aus mir schon bei der zweiten Lesung eine Rampensau raus, von der ich selbst nicht die leiseste Ahnung hatte, bevor ich vor ein paar hundert Zuschauern eine Lesung geben sollte. Meine Lesungen habe ich von Anfang an mit Sounds und Filmclips kombiniert und im Laufe der Jahre entstand dadurch eine sehr eigenwillige Form der Literaturstandup. Ich habe in meinen 675 Lesungen noch keine einzige wiederholt, das würde mich selbst langweilen.
Das ist immer ein ganz schönes In-Kontakttreten mit dem Publikum, mit meinen Leserinnen und Lesern, bei dem wahnsinnig viel gelacht wird, selbst bei tragischen Stories und das ist für mich immer ein hoch konzentrierter Abend für mich, der da stattfindet und der von einer großen Woge von Energie getragen ist, auch von einem herrlich gegenseitigen Austausch.
Je größer die Lesung, desto schöner, ich hatte eine ganze Reihe von Lesungen mit über 1000 Gästen. Das liebe ich, denn das hat sich zu einer ganz eigenen Form entwickelt. Bei meiner letzten Lesung in Ostdeutschland gestanden mir allerdings ein paar Besucherinnen, dass sie zwar meine Bücher auch lieben, aber vor allem immer in meine Literatur-Standups kämen, weil sie dann – wie sie sagten „noch Monate lang so eine Energie spüren“! Das hat mich ziemlich erstaunt.
Gerade kehrte ich von einer Lesereise aus Island zurück. Das waren außergewöhnlich tiefe und schöne Momente, die ich mit meinem Publikum dort teilen durfte. An manchen Tagen hatte ich 800 – 1000 Kilometer zwischen zwei Lesungen zu überbrücken. Mit dem Flugzeug und auf der Schotterpiste im Jeep. Irre!
Was machst du, wenn du nicht arbeitest?
Oh, kann man das trennen? Es ist wohl eine Art Berufskrankheit aus dem Journalismus, dass meine Antennen immer ziemlich auf Empfang stehen, aber ja, ich entspanne natürlich auch, mache seit meiner Kindheit viel Sport, meditiere jeden Tag zweimal, was wohl Menschen, die mich bei meinen sehr vitalen Bühnen-Standups erleben, sehr überraschen dürfte.
Aber zu der aktiven Seite kommt tatsächlich eine stille Seite. Aus ihr schöpfe ich viel Energie. Und wenn ich frage „kann man das trennen?“, dann meine ich damit auch, dass ich oft bei meinen langen Laufrunden auf Texte komme, oder wenn ich im Text stocke, laufen gehe, weil ich tatsächlich glaube, dass die Sätze bei mir oft aus der Bewegung stammen. Ich sitze zwar viel, aber beim Texten stehe ich oft auf und gehe umher, brauche Perspektivwechsel.
Meine große Liebe und wohl meine einzig wirkliche Sucht (neben isländischen Lakritz) : Kino! Egal wo ich bin, ich gehe notorisch häufig ins Kino.
Zu meiner städtischen Seite, der, die sich aus der Kultur, etwa in Köln oder Reykjavík (wo ich in diesem Jahr sehr viel Zeit verbringe) speist, kommt meine tiefe Liebe zur Natur.
Mir gibt die Natur Antworten auf Fragen des Lebens. Ich bin auf einem einsamen Bauernhof in der Pampa des Tecklenburger Landes aufgewachsen. Mein erstes Haustier war ein Rehbock. Natur und Tiere sind mir immer wichtig gewesen und ich konnte schon Greifvögel am Flugbild erkennen und kannte alle Bäume, lange bevor ich schreiben konnte. Ich bin ein Birdwatcher und liebe es, dass manche Veranstalter das wissen. Es gibt einen sehr tollen Buchhändler an der polnischen Grenze, der geht mit mir immer Kraniche gucken, bevor ich am Abend dort auf die Lesebühne gehe.
Was mich auch tief erfüllt, sind Reisen und es ist eine große Freude und ein Privileg, dass ich das sehr gut mit meinem Beruf verbinden kann.
Was würdest du als deine Berufung bezeichnen?
Meine Berufung ist es, Menschen zum Leuchten zu bringen und ihre Geschichten vollständig zu erzählen, Fragmente einer Story so zusammenzufügen, dass es eine Erklärung gibt, wir einen Sinn dahinter erkennen, im weitesten Sinne vielleicht sogar eine Erlösung darin finden. Für mich steht am Anfang eines neuen Buches immer die Frage, welchen Effekt es auf unsere Gesellschaft haben wird, was gibt das Buch nicht nur den einzelnen Leser*innen, sondern welche Lücke kann es füllen, die von besonderem gesellschaftlichem Wert ist?
Was treibt dich an?
Vor allem Neugier. Kein Wunder, dass ich beim Radio noch immer begeistert für die wunderbare WDR 5-Sendung NEUGIER GENÜGT arbeite.
Aber auch mein Gerechtigkeitssinn. Vielleicht auch der Wunsch, eine Art Frieden herzustellen. Ich bin vom Studium her Sozialwissenschaftlerin und habe einen Abschluss als Familientherapeutin. Ich legte immer viel Wert darauf, dass ich nie praktiziert hätte, mir diese Ausbildung aber bei meinen journalistischen Interviews helfe und bei meinem ersten Buch musste ich feststellen, dass meine Aufarbeitung der Einwanderungsgeschichte der Frauen in FRAUEN, FISCHE, FJORDE ganz schön viel bei ihren Familien auslöste. Ich hatte keine Ahnung, was für krasse Geschichten von Krieg und Vertreibung sie hatten. Keine von ihnen hatte je ihren isländischen Familien von der Tragik ihres Lebens, das sie vor ihrer Ankunft in Island führten, erzählt. Nun musste ich plötzlich mit Familien zusammen richtig daran arbeiten, dass eine Ordnung hergestellt wurde, allein schon dadurch, dass ich die alten Ladies endlich dazu gebracht hatte, zu sprechen. Das war anstrengend und sehr beeindruckend und plötzlich machte mein altes Handwerk Sinn. Was mich auch antreibt, ist die Erkenntnis, dass das Leben mich an manchen Stellen wohl als Medium einsetzt, als Medium zwischen Menschen und ihren Geschichten. So erlebe ich es und dafür bin ich sehr dankbar, denn so ergibt meine Arbeit einen tiefen Sinn für mich. Ich hoffe, natürlich auch für andere.
Worauf bist du besonders stolz?
Tatsächlich darauf, dass meine Geschichten etwas auslösen. Bei meinem ersten Buch erlebte ich unglaubliche Widerstände. Einerseits waren da diese krassen Stories aus Island. Ich war jedes Mal vollkommen erschöpft, wenn ich von einem der Interviews aus total abgelegenen Orten am Polarkreis zurückkam, so tragisch waren die Biografien der alten Frauen, die längst mit Deutschland gebrochen hatten. Das hatte ich mir bei all meiner Phantasie nicht ausgemalt und dann hatte ich wahnsinnig Stress mit meinem allerersten Verlag, die mich tatsächlich 8 Wochen vor der Buchmesse rausschmissen, weil ich nicht so „spurte“, wie sie das wollten. Die erwarteten ein Null-acht-fünfzehn Buch, wollten das sogar „Isländischer Bauer sucht Frau“ nennen, worauf ich antwortete „Over my dead Body“. Nur über meine Leiche. Ich bin Tochter eines Landwirts und hatte verrückterweise gerade ein Comedy-Hörspiel für den WDR mit Lioba Albus zusammen geschrieben, in dem der Regisseur der gleichnamigen Privat-TV-Serie tot in der Jauchegrube gefunden wurde, eine wahnsinnig lustige „Who’s done it- Geschichte“. Wie hätte ich das zulassen können?
Was mich seltsamerweise rettete, war, das damals alle sagten „Im nächsten Jahr interessiert sich niemand mehr für Island“. Wären nicht alle davon überzeugt gewesen, dass Island nach dem Buchmessenauftritt des Landes keine Rolle mehr spielen würde, ich hätte die Story in die Schublade gelegt und erst – ich schwöre – zwei Jahre später wieder rausgeholt. Heute ist das ein irrwitziger Gedanke, denn damals begann der große Boom mit Island erst und er hört nicht auf.
Im Nachhinein kam raus, dass man mich vom Verlag wohl nur disziplinieren wollte. Der Rauswurf war mit das Beste, was mir als Schriftstellerin passieren konnte, denn als ich endlich weinen wollte, aus Gram darüber und auch aus Erschöpfung, wurde mir plötzlich klar, dass ich das Buch jetzt endlich so schreiben konnte, wie ICH das wollte. Das noch verrücktere: Ich hatte einen lausigen Vertrag und hätte daran nicht mal ein Zehntel dessen verdient, was mein Buch schließlich für mich abwarf.
Mein österreichischer Verleger und ich wurden glücklich darüber. Es hat dan als Paperback noch mal ein verrücktes und schönes neues Leben bekommen, als es unterm Piper-Dach bei Malik landete, in der National Geographic Reihe und damit bei Buchmenschen, die mich als Schriftstellerin enorm fördern.
Aber ja, ich habe unglaublich für und um dieses erste Buch kämpfen müssen, in den ersten Jahren bin ich kurz an einen Verlag geraten, der sich als kriminell herausstellte und der die Autorinnen (das hatten sich tatsächlich nur Frauen gefallen lassen – was sagt uns das?) bewusst betrog. Ich war die Einzige, die dagegen klagte und nach Jahren und einige Gerichtsinstanzen später bekam ich Recht. Wir konnten denen tausende Buchexemplare an Schwarzverkäufen nachweisen. Und da wir gerade darüber sprechen: Zum Stolz gehören die richtigen Freunde:
Hättest Du, Melanie, mir damals nicht in einer entscheidenden Minute den richtigen Satz gesagt, ich hätte vielleicht auch so, wie die anderen betrogenen Autorinnen aufgegeben. Du sagtest mir damals, als ich gerade überlegte, ob ich nicht doch lieber wieder in die USA und zum Film zurückgehen sollte „Wer bei so vielen Rückschlägen immer noch so glücklich schreibt, ist Schriftstellerin!“ Auch das hat mich damals bewegt, nicht aufzugeben. Dafür danke ich dir.
Stolz ist ein Gefühl, das ich nicht allzu oft habe. Als ich in diesem Sommer die Reise von Bundespräsident Steinmeier in Island begleiten durfte, die er anlässlich der „70 Jahre deutsche Einwanderung“ an den Polarkreis machte und da die letzten Überlebenden mit dem Bundespräsidenten und unserer First Lady zusammenkamen, da spürte ich das plötzlich. Die hochbetagte Alma, die ich in FRAUEN, FISCHE, FJORDE portraitiert hatte, sagte diesen Satz „Dass ich das noch erleben darf“ – da dachte ich „All die Kämpfe für mein erstes Buch haben sich gelohnt“. In diesem Moment war ich sehr stolz, denn so verrückt es klingen mag – mein Buch löste eine neue Welle der isländisch-deutschen Freundschaft und letztlich sogar einen Staatsbesuch aus.
Welches war deine bisher interessanteste Reise?
Eine Atlantiküberquerung auf einem Segelboot, einem 22 Meter langen Katamaran. Vollkommen verrückt, ich war mal wieder auf Abenteuer aus und total begeistert und landete schließlich bei 7 Meter hohen Wellen irgendwo auf diesem riesigen Ozean, der mich die Demut lehrte, die ich bis dahin nicht hatte. Ich war vorher noch nie seekrank, aber hier wollte ich an zwei Tagen einfach nur noch sterben. Und doch war es die verrückteste und interessanteste Reise bisher, denn ich meine, dass ich ein bisschen mehr von der Welt verstanden habe da draußen, Auge in Auge mit einer riesigen Pottwalmutter und ihrem Jungen neben uns oder nachts, wenn der Sternenhimmel in der Karibik sich mit seinen Millionen von Lichtern bis zum Horizont über Dich senkt und Du an Deck liegst und heulen möchtest über die Schönheit und Geborgenheit in dieser Welt. Ich war früher mal mit einem leidenschaftlichen Segler zusammen und habe den nie verstanden, aber da habe ich etwas von dieser Welt der Segler begriffen und auch ein bisschen davon in meinen neuen Roman REYKJAVÍK BLUES einfließen lassen.
Was ist das Aufregendste oder Interessanteste, was dir je passiert ist?
Da muss ich nicht lange nachdenken. Das war meine Begegnung mit Gerta Stern. Eine seltsame Fügung brachte unser beider Leben in Verbindung – ich war nach Panama City eingeladen worden und hatte dort eine Lesung in der Deutschen Residenz. Eine alte Dame stand beim Signieren vor meinem Tisch und hielt eines meiner Sachbücher in der Hand, sagte „Weißt du, dass das erst das zweite deutsche Buch ist, das ich lesen werde?“
Vor mir stand Lotte, die beste Freundin von Gerta. Lotte erzählte mir von der Welt der jüdischen Emigranten in Panama. Das überraschte mich vollkommen, denn ich hatte schon 20 Jahre davor für eine amerikanische Filmproduktion zum Exil der 1930er Jahre gearbeitet und mir immer eingebildet, nahezu alles darüber zu wissen. Von Panama war da nie die Rede. Diese Begegnung eröffnete mir eine vollkommen neue Welt und ich bin so glücklich und froh, dass ich diese Welt der alten jüdischen Emigrantinnen noch ein paar Jahre lang ausgiebig kennenlernen durfte, denn das waren die größten Lehrmeister im Leben, die ich je hatte: Vollkommen in ihrer Lebensfreude, tief dankbar für das Leben, das ihnen noch mal geschenkt wurde und so voller Neugier und Unbefangen allem Fremden gegenüber.
Ich lernte Gerta Stern durch Lotte kennen. Die beiden waren beste Freundinnen. Die eine so dröge und norddeutsch, wie eine Hamburgerin in der Ferne nur sein kann und Gerta im Vergleich dazu die jüdisch wienerische Dramaqueen. Als ich Gerta begegnete, wurde es ein wenig spooky, denn sie erwies sich als die Nichte des berühmten Komponisten Siegfried Translateur. Der kam in meinem ersten Roman NORDBRÄUTE vor, der gerade in dem Jahr erschienen war.
Gerta und ich sahen uns ziemlich überrascht an, als das klar wurde. Ich beschloss, ihre außergewöhnliche Geschichte fürs Radio zu erzählen, denn sie war eine Schauspielerin in Wien gewesen, hatte einen der ersten Fußballprofis geheiratet und war mit ihm eigentlich auf dem Weg nach Südafrika gewesen, als die beiden von den Progromen in Hamburg überrascht worden waren und er im Konzentrationslager landete. Mit Hilfe eines unbekannten Helfers war es Gerta damals gelungen, ihren Mann aus dem KZ zu befreien. Der Unbekannte, von dem sie nur den Vornamen wussten, hatte ihnen sogar die Schiffspassage nach Panama geschenkt, denn das war das einzige Land, in das sie sich mit seiner Hilfe als Juden noch retten konnten.
Als ich das Interview über dieses verrückte und später so erfolgreiche Leben in Panama schon beendet hatte, warf ich aus einem Impuls heraus mein Aufnahmegerät noch mal an und stellte Gerta eine letzte Frage. Sie sah selbst viel jünger aus, als sie war, war damals aber schon 99 Jahre alt und betrieb noch immer ihren gut gehenden Kosmetiksalon. Wir saßen bei fast 40° Grad und 97% Luftfeuchtigkeit in den Tropen. Ein paar Monate später wollte sie ihren hundertsten Geburtstag in Österreich, in ihrer alten Heimat feiern.
Und nun schoss sie wie aus einer Pistole in mein digitales Aufnahmegerät: „Wir haben nie erfahren, wer dieser Herr Otto war, dem wir unser Leben verdanken“
Gerta meinte, dass es doch eine Schande sei, dass dieser Mann, der alles für sie riskiert hatte, ihnen nie seinen vollen Namen genannt habe und sie sich nie bedanken konnten. Sie hatte gleich nach dem Krieg in Mittelamerika damit begonnen, ihn zu suchen, aber irgendwann aufgegeben und vermutete nun, er müsse wohl im Krieg umgekommen sein.
In diesem Moment in Panama wusste ich, dass ich ihn finden kann. Gerta verriet ich nichts davon, denn ich hatte beschlossen, dass das mein Geschenk zu ihrem 100. Geburtstag würde. Das konnte doch nicht sein, dass sie 100 würde und nicht wusste, wem sie ihre Rettung zu verdanken hatte.
Es war verrückt, denn ich fand diesen Otto Dettmers ziemlich schnell. Ich kannte sogar seine Villa, war als Studentin in Bremen jeden Tag an seinem Haus zur Uni vorbeigeradelt. Er war inzwischen längst gestorben, aber ich wusste nun, wer Gerta und ihre Familie gerettet hatte. Dann lud mich das 5-Sterne-Hotel zu Gertas Geburtstagsfeier ein. Allein die Feier zu Gertas Hundertstem war der Hammer: 60 Leute aus 15 Ländern. Die alte Dame feierte mit uns anderen eine ganze Woche lang in ihrem schicken Stammhotel in Bad Hofgastein und hatte nicht die leiseste Ahnung, was ich ihr schenken würde.
Sie war sprachlos, als ich meine Rede dort hielt und ihre lebenslange Frage auflösen konnte.
Am dritten Tag in Bad Hofgastein wusste ich: Das ist das zweite Mal in meinem Leben, das mir eine historische Geschichte mit Happy End geschenkt wird, die noch nicht erzählt wurde und ich wusste auch, ich würde es mir wahrscheinlich bis ans Lebensende vorwerfen, dieses Buch nicht gemacht zu haben.
Das Memoir, das ich schrieb, „Señora Gerta“ landete in der Spiegel Bestsellerliste, aber was mich mit noch mehr Freude erfüllte, war der Brief, den ich von Ulrike, einer der Enkelinnen von Gertas Retter erhielt „Ihr Buch klärt alle Fragen, die ich mir mein Leben lang schon stelle!“ Wir fanden inzwischen drei weitere jüdische Familien, die Otto Dettmers auch gerettet hat.
Im Jahr darauf flogen wir gemeinsam mit Ulrikes Tochter nach Panama. Das Buch hatte also viele positive Folgen. Unter anderem auch, dass Gerta noch mit 101 einen Heiratsantrag erhielt und sie sogar noch einen Werbevertrag im panamaischen Fernsehen bekam. Sie starb glücklich und erfüllt mit fast 104!
Was ist die wichtigste Lektion, die du bisher gelernt hast?
Mir treu zu bleiben, auf mein Bauchgefühl zu hören, meinen Instinkten zu trauen. Ein Beispiel ist der Verlag aus München, der mich betrogen hat. Die dortige Verlegerin rief mich an, weil die unbedingt meine Bücher in ihrer Firmengründung mit im Portefeuille haben wollten und als ich nach dem ersten Gespräch auflegte, dachte ich „die klingt wie eine verzickte Dreizehnjährige, die nicht das kriegt, was Papi ihr versprochen hat“ – im Nachhinein muss ich sagen: Stimmte komplett.
Und wenn ich Verlegerin sage, muss ich das hier relativieren, denn das war das erste Verfahren in der deutschen Verlagsgeschichte, dass jemand behauptete „Verleger“ zu sein, ohne dafür die nötigen Voraussetzungen zu erfüllen. Die ganze Firma war offensichtlich nur gegründet worden, um ein Abschreibungsprojekt zu kreieren.
Verbunden damit übrigens war die Lektion, sich mit den Besten zu verbinden. Ohne meinen Anwalt, der auf Verlagsrecht spezialisiert war, hätte ich das nicht geschafft. Und den Agenten des Literaturbetriebes zu vertrauen. Eine Agentur im Rücken zu haben, hat mein Leben als Schriftstellerin sehr viel leichter gemacht.
Zum vermeintlichen Bauchgefühl, das so platt klingen mag: Ich machte dieses Buch über weibliche Tibetische Gelehrte. Beim Schreiben stieß ich auf ein im Buddhismus wichtiges Organ: nämlich das, was wir Bauch nennen und das schon im Buddhismus als das wichtigste Organ angesehen wird. In der Meditation schließen wir uns daran an: Da liegen 200 Millionen Nervenzellen, die haben uns wirklich was zu sagen!
Hast du Vorbilder? Welche?
Ja, einige sogar. Bestimmt ist Gerta für mich zum Vorbild geworden. Nachdem mein Memoir über sie fertig war, begann eine tiefe Freundschaft. Ich empfand es als großes Glück, von einem Menschen in meinem Leben begleitet zu sein, der so viel Lebenserfahrung hat. Ich reiste noch regelmäßig nach Panama und Gerta und ihre Freundinnen nahmen mich auf in ihren Kreis vollkommen ungebrochener, starker Persönlichkeiten. Gerta wurde in ihrer tiefen Fröhlichkeit und ihrem Ungebrochensein, ihrem vollkommenen Mut, es mit den Nazis aufzunehmen und sein eigenes Glück zu retten, zu einem Vorbild für mich.
Früher hätte ich bestimmt als erstes gesagt: Tania Blixen und zu den wenigen Dingen, die ich mir nur schwer verzeihen kann (höchsten 2 oder 3) , gehört, dass ich nicht das Original Tintenfässchen von ihr kaufte, dass mir mal für 60 $ zum Kauf angeboten wurde. Aber diese Haltung ist natürlich tief romantisch und hat auch was mit dem Blick auf das „alte“ Schriftstellerleben zu tun. Let’s face it: Wir arbeiten und leben in einem Business, in dem es um ernsthafte Dinge und ein komplexes Handwerk geht. Auf eine Weise ist mein indischer Meditationslehrer ein Vorbild für mich, denn er schafft es immer wieder, mich mit seinem Wissen zu überraschen und zu fördern.
Wer in diesem Leben (nach all den großen Vorbildern meiner Jugend von Hermann Hesse bis Doktor Schweizer) mein Vorbild wurde, ist eine Künstlerin, die ich in San Francisco kennenlernen durfte: Topher Delaney ist die bedeutendste Landart-Künstlerin der USA. Sie hat unter anderem Liebesgedichte in Braille-Schrift aus Felsen in einem Park in Nordkalifornien gebaut, die man nur aus der Luft lesen kann. Sie ist jemand, die meinen Blick auf die Welt sehr veränderte. Topher wurde schon als Teenager Assistentin von Jackson Pollock und war die Erste, die „heilende Gärten“ machte, indem sie die Lehre Hildegard von Bingens in die moderne Landart übernahm.
Topher ist jemand, die ich in ihrer Fähigkeit für große Visionen und für ihre positive Form der Kompromisslosigkeit bewundere.
Sie war auch diejenige, die mich zur Seite nahm und ernst ansah und sagte „Du weißt aber schon, dass du eigentlich eine Künstlerin bist, oder? Du kannst dem nicht entkommen und musst dich dem endlich stellen!“
Das hat mir geholfen, mich zu trauen, das auszudrücken, was ich heute mache.
Was inspiriert dich?
Menschen, Menschen und nochmals Menschen. Nichts finde ich spannender und schöner und inspirierender als Menschen in ihrer Vielfalt. Mir fallen dabei sofort russische Einwandererkinder in der israelischen Negevwüste ein, bei denen ich mal am Schulunterricht teilnehmen durfte. Selten sind mir glücklichere Menschen begegnet. Für meinen ersten Dokumentarfilm drehte ich in einem Indianerreservat in Süddakota. Die Lakota Sioux, die ich da treffen durfte, fand ich hoch interessant, ich verbrachte viel Zeit mit der Schamanin des Stammes, wir hatten unglaubliche Diskussionen über ein gelingendes Leben, das ist jetzt 20 Jahre her, hat mich aber als tiefe Inspiration bis heute nicht losgelassen.
Was macht dich glücklich?
Ein Mensch, der mich sehr liebte, sagte mal den schönen Satz „Du siehst die Schönheit Gottes in jeder Wolke!“ – und ja, that’s it! Ich halte mich für sehr „glücksbegabt“. Ich arbeite in einem alten Turm und ich schaue dabei durch fünf konvex in den Himmel gerichtete Fenster, schaue in die Wolken und blicke über Baumkronen hinweg und kann gar nicht aufzählen, wie viele Glücksmomente ich so am Tag habe: Die schönste Wolke, lachende Kinder in der Schulpause im Park.
Manchmal sind es auch Sätze, die schön sind und die mir jemand ins Ohr flüstert oder schreibt, oder die ich im Vorbeigehen höre.
Den Sommer habe ich in diesem Jahr in Island verbracht. Irgendwann hörte ich auf, dort die Glücksmomente zu zählen, denn in Island bin ich mitten in der Natur und in dieser schönen Gemeinschaft dort oft sehr glücklich. Zu den wundervollsten Momenten meines Lebens gehört der, als ich mich bei der Rückkehr der Singschwäne im Frühjahr in Island mal spontan auf ein freies Feld legte und mich mit meinem Daunenmantel zudeckte, der zum Glück die Farbe des Feldes hatte. Hunderte von Singschwänen landeten um mich herum und ich lag heulend vor Glück unterm Daunenmantel und spürte die Kraft ihrer großen Flügel um mich herum, hörte ihre Gesänge, weil sie gerade alle nach Südisland zurückkehrten. Aber nichts, wirklich nichts toppt ziehende Kraniche.
Und Menschen, Gemeinschaft, gemeinsames Lachen macht mich sehr glücklich. Oft übrigens auch mein Bruder, wenn wir uns Geheimcodes aus der Kindheit zuwerfen, verbale Codes, dann könnte ich ausflippen vor Glück. Verrückt, wie nachhaltig und wie tief so etwas wirkt. Das ist dann auch Verbundenheit und Glück durch Sprache. Ich wuchs mit norddeutschem Plattdeutsch auf. Speziell diese Sprache lässt mich manchmal ganze Glückswellen erleben.
Was macht dich wütend?
Früher hat mich vieles wütend gemacht, aber seit ich meditiere, nicht mehr viel. Die Wut führt oft dazu, nicht klar zu bleiben. Ich bin heute sehr viel besonnener, als früher. In der Regel ist es Politik, die mich wütend machen kann. Das ist wohl genetisch bedingt, denn in meinem Elternhaus pflegten wir heftige Debatten, meine Eltern waren beide politisch engagiert und das ist wie ein Muskel, den ich schon als Kind ausbilden musste, weil das einen großen Stellenwert in meiner Herkunftsfamilie hatte.
Wenn jemand, der dir nahe steht, unglücklich ist: Wie munterst du sie oder ihn wieder auf?
Total bekloppt, aber das weckt in mir komplette Mutterinstinkte, denn ich bin geradezu besessen davon, dass dieser Mensch sofort etwas Gutes essen muss. Ich bekoche dann wie eine Glucke und gebe nicht auf, bis der- oder diejenige wieder lachen kann.
Hast du ein Lebensmotto?
Werde, die/ der Du bist.
Ein Lieblingszitat?
Das wechselt immer mal. Deshalb habe ich gerade in mein Tagebuch geblickt und fand ein schönes Zitat meiner großen Lehrmeisterin Gerta Stern AKA „Senora Gerta“, das ich hier teilen möchte: „Nicht jeder Mensch ist gleich begabt fürs Glück, es gehört eine Menge Mut dazu.
Was ist der Sinn des Lebens?
Die Erde ein bisschen besser zu machen durch die eigene Anwesenheit, eine positive Spur auf ihr zu hinterlassen!
Welche Frage habe ich vergessen, obwohl du eine spannende Antwort darauf gehabt hättest?
Wow! Ja, diese hier: „Was macht dieser Fragebogen mit dir?“
Er bringt mich auf erstaunliche Antworten, denn du hast beeindruckende Fragen (o.k., bis auf die nach meinem Alter).
Mehr über Anne Siegel:
www.AnneSiegel.de
Insta – theAnneSiegel (https://www.instagram.com/theannesiegel/)
FB – Anne Siegel / Autorin & Frauen Fische Fjorde (https://www.facebook.com/AnneSiegelAutorin/ & https://www.facebook.com/FrauenFischeFjorde/)
Annes aktuellsten Roman REYKJAVÍK BLUES gibt es überall dort, wo es Bücher gibt.
Das Interview führte Melanie Raabe.
Foto: Jacobia Dahm
Georg, 59, Frankfurt am Main
„We want the world, and we want it now.„
Georg! Dein bayrischer Dialekt ist nicht gerade unauffällig. Woher genau kommst du?
Ich bin 50 Kilometer entfernt von München, in Weilheim/Oberbayern geboren. Landkreis Weilheim-Schongau – der frühere Wahlkreis von Franz Josef Strauß und der jetzige von Alexander Dobrindt. Bevor ich nach Frankfurt floh, lebte ich lange Zeit in Huglfing. Huglfing liegt zwischen Untereglfing und Obermaxlried. Auch Spatzenhausen und Eberfing sind nicht weit weg. Und ja, wenn ich gut gelaunt oder aber sehr grantig bin, dann verfalle ich bisweilen zurück ins Bairische, jene bayerische Sprache, die in Altbayern gesprochen wird – und die, glaube ich, von der UNESCO als schützenswert eingestuft wurde. Ich kann aber auch ganz gut Hochdeutsch. Das bekommen all jene zu hören, mit denen ich nicht immer nur gerne Kirschen esse.
Wie war deine Kindheit?
Die Berge, die Seen, die Wälder, die Bäume, auf die wir gekraxelt sind, die angepassten Deppen vom FC Bayern mit denen wir, die aufrechten 60er, uns geprügelt haben. Der riesige Garten von der geliebten Oma väterlicherseits, 1885 geboren, 1989 gestorben, Ein Traum, der Garten, der mehr ein wilder Park war. Erdbeeren, Stachelbeeren, Himbeeren, Apfelbäume, ein kleines Schwimmbad, ein kleiner Wald, eine Kuh namens Sana. Die Hausangestellte der Oma, die Resi hieß und im Garten ihr Goggomobil abstellte. Das Gartenhäuschen, in dem wir die ersten verbotenen Küsse tauschten. Der Opa, mit dem ich Schach spielte und immer wieder die Oma, die uns Geschichten erzählte, von den Kriegen, von der Verfolgung durch die Nazis, vom ersten Radio, von den ersten Autos, vom ersten Fernsehapparat – und von jenen, die sie Ende April 1945 auf der Straße noch bespuckten – und ab Mai 1945 scheißfreundlich waren.
Und deine Jugend?
Vom Traum zum Alptraum. Weilheim in Oberbayern, die Stadt, in der ich geboren wurde, gehörte in den 60ern und 70ern zum Reaktionärsten weit und breit. Ringsum die Welt und die Künstler. Murnau, Dießen, Tutzing, Ambach – Künstlerkolonien. Starnberg, Garmisch-Partenkirchen – die finanzielle upper class. Und Weilheim? Beamte. Schlimme Kleinbürger. In der Wolle gefärbte Spießer. Die Eltern wohlhabend. Der Sohn unangepasst. Das konnte nicht gut gehen. Und es ging nicht gut. Immerhin: Wir dröhnten uns zu, mit allem was zur Verfügung stand. Hörten die Doors und die Stones und Jimi Hendrix und lasen Jack Kerouac und John Steinbeck und Jörg Fauser und lachten die Bürger aus. Ich schmiss die Schule, in der ich immer schlechter geworden war, meine erste Liebe hatte ein wenig geerbt: Sex and drugs and rock n roll, weg, nur weg, nach Kreta. Da, wo die Hippies mal gewesen waren.
Du bist Literaturagent, hast aber zuvor, wenn ich das alles richtig verstanden habe, noch eine Menge andere Stationen in der Literaturbranche durchlaufen. Gib uns doch mal ein „Georg Simader – was bisher geschah!“.
Das Abitur hatte ich nie gemacht, der Weg in die Arztpraxis der Mutter und das – mittlerweile verkaufte – Bankhaus des Großvaters blieben so gottlob versperrt. Zum Glück gab es das gedruckte Wort, und das hieß zuallererst: Widerstand gegen das Establishment. Los ging es mit einer Buchhandlung in meiner Heimatstadt, die es immer noch gibt, in der damals „linke“ Literatur verkauft wurde, aber nicht nur: Der verehrte Thomas Mann war des Öfteren in Polling, einem Ort, drei Kilometer entfernt von Weilheim, zugange gewesen. „Zauberberg“ als Name für eine Buchhandlung, in der es auch ein bisschen Rotwein und Müsli gab, hörte sich gut an, besser als „Doktor Faustus-Buchhandlung“. Also Buchhandlung Zauberberg. Doch die Zeiten wurden hart. Der Pfarrer, die Gegend um Weilheim heißt „Pfaffenwinkel“, predigte von der Kanzel: „Kauft nicht beim Zauberberg“, den Lehrern wurde gesagt: „Bestellt eure Klassensätze nicht dort“. Und die Polizei war oft gesehener Gast, verlegten wir doch auch eine reichlich dilettantisch gemachte, dafür aber rotzfreche und der Staatsmacht nicht genehme Zeitschrift namens „Wahn & Sinn“.
Flucht nach Hessen: Nach einer halbjährigen Urlaubsvertretung in der „Tucholsky Buchhandlung“ in Offenbach dockte ich beim „Pflasterstrand“, einer linken Stadtzeitung in Frankfurt, an. Der „Pflasterstrand“, was für eine große Welt! Joschka Fischer ging ein und aus, Daniel Cohn-Bendit wütete durch die Räume, Esther Schapira, Cora Stephan, Reinhard Mohr und viele andere schrieben – und ich, ich war ein kleines Licht im großen „Pflasterstrand“, wurde Werbeleiter, musste mir das Rüstzeug hierfür aber noch erarbeiten. Ein bisschen schrieb ich, eher überflüssiges Zeug, wie einen Restaurantführer, der sich überraschend gut verkaufte – aber ich wollte noch was dazulernen. Und das tat ich. Eine Ausbildung zum Verlagskaufmann folgte, in München, bei Antje Kunstmann. Abschluss? Brauchte ich nicht, aber gelernt habe ich was von dieser unerschrockenen Verlegerin, in diesem kleinen und ehrenwerten Verlag.
Jetzt war ich fast zehn Jahre in der Branche. Zeit, um einen eigenen Verlag zu gründen? Ich tat es, Ende der 80er Jahre, verlegte ein paar Kriminalromane, darunter die Werke des vielfach ausgezeichneten Robert Hültner, ein paar Regionalia, von Gastro bis Reise, und viele Fußballbücher. Stolz bin ich noch heute auf Uli Steins „Halbzeit“, eine Autobiographie des damaligen Skandaltorhüters, die es, mit annähernd 60.000 verkauften Exemplaren im Hardcover, auf die Spiegel-Bestsellerliste schaffte und mir Ruhm, Ehre und ordentlich Geld einbrachte. Doch Hochmut kommt vor dem Fall: Eine autorisierte Günter Netzer-Biographie, mit scheußlichem Cover, die zudem noch vor der Zeit kam, in der Netzer auch jenen was zu sagen begann, die keine Ahnung von Fußball hatten, brachte mich nahe an den finanziellen Abgrund. Da nütze es nichts, dass Netzer mich in seinem roten Ferrari mitnahm und feine Schweizer Weine offerierte – ich hatte zu lernen, wie man mit Geld jongliert.
1996 schrieb ich einen Brief an den damaligen Programmchef von Eichborn, Uwe Gruhle. „Lieber Uwe, die Zeiten werden härter, ich weiß nicht, wie lange ich das mit dem eigenen Verlag noch machen will und kann.“ Tags drauf rief mich Uwe an. „Georg, komm zu uns, scoute viel, lektoriere ein wenig, du hast eine Menge Erfahrung.“ Ich kam und blieb, und damals war Eichborn groß und noch was ganz Besonderes, ganz und gar unangepasst, mit schrägen Büchern und vielen Überraschungsbestsellern.
Uwe, die Vaterfigur, der verschmitzte, schielende, unangepasste und unglaublich gescheite Mann, brachte sich um. Ein Schock. Mit Wolfgang Ferchl, dem heutigen Knaus-Verleger, der damals schon angedockt hatte, verstand ich mich überhaupt nicht. (Solltest du das zufällig lesen, lieber Wolfgang, heute ist alles gut.) Ich mochte einfach keine Alphatiere, mein Vater war schon eines, und Ferchl auch. Ich ließ Ferchl spüren, dass er mir auf die Nerven ging, war zudem glücklos in Sachen Akquise neuer Autoren – also tat Ferchl das, wozu er das Recht hatte: Er schmiss mich, der ich lediglich einen zeitlich befristeten Vertrag hatte, raus.
Du führst heute deine eigene Literaturagentur, copywrite. Was hat dich dazu gebracht, Literaturagent zu werden?
Ich kann ja nichts anderes! Aber mal genauer: Spätestens bei Eichborn merkte ich, dass das Angestelltendasein nichts für mich sein konnte. Die großen Firmen auch nicht. Ein Meeting jagt das andere, Chefs haben die hellen großen Zimmer und die Subalternen jene mit weniger Licht, Strukturen schlagen Inhalte tot. Nicht meine Welt. Auch der Angestellte als solcher: Staatliche Rente, Arbeitslosenversicherung – interessiert mich nicht. Angsthaserei, verfluchte. Was mich aber interessiert: Bücher machen. Mit Autoren arbeiten. Neue Ideen aushecken. Und was ich bereits in der Tasche hatte: Eine Menge Kontakte in der Branche. Ich wusste bereits, wie und wo ich mich zu bewegen hatte. Und was ich ebenfalls wusste: Wie man Verträge auszuhandeln hat. Wie kämpfen geht. (Hätte ich studiert: Ich wäre mutmaßlich Strafverteidiger geworden. Heute handele ich – hoffentlich – gute Deals für Autoren aus. Und Straffreiheit, bei schlechten Manuskripten.)
Was macht einen guten Agenten aus?
Zum richtigen Zeitpunkt die richtige Tür öffnen, das ist die Hauptsache. Das hört sich allerdings jetzt ein bisschen einfacher an, als es ist. Was dazu gehört? Eine Menge Kontakte, Menschenkenntnis (passen Lektor und Autor zusammen?), Fachkenntnis und Literaturverständnis (passen Text des Autors und Verlagsprogramm gut zusammen?). Kann sich der Autor innerhalb des Verlages gut weiterentwickeln?
Agent sein, das bedeutet ja: Eine Ehe anbahnen. Eine Ehe zwischen Verlag und Autor. Ganz falsch wäre es dabei, auch wenn man als Agent rechnen können muss, lediglich auf die Mitgift des einen oder anderen zu setzen, vielmehr geht es darum: Werden die zwei auf Dauer glücklich? So kann es durchaus vernünftig sein, mal einen Vorschuss nicht zu hoch anzusetzen oder aber sich für einen kleineren Verlag zu entscheiden. Mal kann es sinnvoll sein, sich für einen Verlag mit einem sehr breiten Spektrum zu entscheiden, mal ist es richtig, einen Verlag zu wählen, der nur ein sehr kleines, dafür aber sehr aussagekräftiges Programm hat. Beide Partner sollen für lange Zeit zusammen passen, zumindest in der Belletristik. (Im Sachbuch geht’s deutlich mehr um das einzelne Buch.)
Einen schlechten Agenten zeichnet im Übrigen aus, dass ihn nur eines interessiert: Möglichst viel Kohle via Vorschuss rauszuschinden. Das füllt kurzfristig den eigenen Geldbeutel, langfristig schadet es, denn Autor und Verlag, Geben und Nehmen, stehen in einem unguten Verhältnis zueinander.
Was ist das Schönste an deinem Job?
Wenn ich die richtige Tür geöffnet habe. Bei einer Autorin namens Melanie Raabe ist mir das möglicherweise geglückt, bei vielen anderen, ob sie jetzt Stephan Thome, Rita Falk, Bernhard Aichner, Jan Costin Wagner oder wie auch immer heißen, hoffentlich auch.
Wobei: Ich sollte mich nicht mit fremden Federn schmücken. Stephan Thome, der Fuchs, mahnte immer wieder an: „Suhrkamp. Stell‘ den Roman doch Suhrkamp vor.“ Ich antwortete: „Massengrab, nichts da.“ Bis dann der wunderbare Karsten Kredel kam, der heute das Hanser Berlin-Programm verantwortet. Kredel wollte eigentlich für Suhrkamp einen Kriminalroman einkaufen, bekam anstattdessen den grandiosen „Grenzgang“ von Stephan Thome zur Lektüre. Doris Plöschberger machte aus diesem hervorragenden Buch einen Bestseller. Stephan Thome und Doris Plöschberger: Ein dream team. Alina Bronsky und Sandra Heinrici von Kiepenheuer & Witsch: Eine traumhafte Kombi. Jan Costin Wagner und Wolfgang Hörner von Galiani: Mutmaßlich ein Bund fürs Leben. Da sind Türen offen, die hoffentlich nie wieder zugehen.
Welches sind die größten Herausforderungen in deinem Job?
Mir einzugestehen, dass ich eine falsche Tür geöffnet habe. Nur ein Beispiel: Es ist mir ein Mal passiert, dass ich einen Autor richtiggehend verheizt habe. Hoher Vorschuss, problematischer Lektor, falscher Verlag (für diesen Autor). Wir sind reumütig zu seinem ursprünglichen – ziemlich geizigen, aber netten und kompetenten – Verlag zurückgekehrt. Ich schäme mich noch heute – und erinnere mich ungern an das Feixen der Programmchefin, die ihren geschätzten Autor wieder zurück in ihrem Stall hatte.
Ebenfalls eine große Herausforderung: Wenn ein Autor seinen Roman vergeigt hat. Wir alle wissen: So etwas passiert nicht mit böser Absicht. Und der Autor hat monate-, machmal jahrelang gearbeitet, erreicht mich als Leser aber nicht – oder jene nicht, denen er seine Geschichte erzählen will. Wie sag ich’s ihm? Das Unangenehme ist: Je erfolgreicher ein Autor ist, desto weniger wird mit ihm Klartext geredet. Die Verlage haben oft große Angst, einen erfolgreichen Autor zu verlieren, da wird dann gelegentlich Honig ums Maul geschmiert. Ich neige dazu, möglichst ehrlich zu sein. Ein Ritt auf der Rasierklinge. Denn ein Autor hat auch das Recht, den Agenten zu wechseln.
Und sonst: Mein Job verlangt, dass ich sehr viele Sachen gleichzeitig können muss: Hart sein, weich sein – und leidensfähig. Der Flop eines Buches trifft mich ja auch persönlich. Doch in dieser Situation habe ich den Autor aufzumuntern. Und nicht zu lamentieren.
Was magst du an der Arbeit mit Autorinnen und Autoren? (Und was weniger?)
Am Schönsten ist es natürlich, wenn ich einen Roman auf den Tisch bekomme, mit der Zunge schnalze, und mir sagen kann: „Juchhe, wunderbare Story, origineller Plot, alle Figuren sind richtig gezeichnet, und sogar die Orthographie stimmt.“ Dem Lektor mit stolz geschwellter Brust zu begegnen in dem Wissen, dass er genau den Roman bekommen hat, den er herbeigesehnt hat.
Schön ist natürlich auch, wenn Autoren (sorry, für das immer fehlende -Innen) ihre Fähigkeiten richtig einschätzen. Nicht jeder Autor ist ein Bestsellerautor, nicht jeder Autor ist ein Buchpreiskandidat, manche Autoren wissen sehr genau, wo ihre Grenzen sind – manche eben leider nicht. Da ist dann, wenn die Auflage nicht stimmt, immer der Verlag oder der Agent schuld, nie der Autor selbst – wobei ich beim Autor gar nicht von Schuld sprechen will. Es kann halt nicht jeder in der ersten Liga spielen.
Was liest du privat?
Privat und beruflich, das vermischt sich aufs Unerträglichste. Nie kann ich etwa einen deutschen Spannungsautor lesen, ohne an seinem Roman gedanklich mit dem Bleistift dabei zu sein und/oder mich zu fragen: Was macht eine Nele Neuhaus, einen Bannalec, einen Fitzek so erfolgreich? Insofern versuche ich, dies insbesondere im Urlaub, von deutschen Autoren die Finger zu lassen. Gerne lese ich Spannung, etwa psychologische Spannung und Politthriller. Ganz oben: Deon Meyer, Frederick Forsyth, Don Winslow. All time favorite: Patricia Highsmith. Ebenfalls in der ersten Liga: Stephen King. Dass ich Gillian Flynns „Finstere Orte“ noch nicht intus habe, ist eine Schande, wo ich doch „Gone Girl“ für einen der besten Spannungsromane aller Zeiten halte. In seiner pointierten Gesellschaftskritik beinahe ebenbürtig mit Jonathan Franzens „Korrekturen“.
Im Laufe der Zeit hat sich das Leseverhalten verändert. Eine Berufskrankheit vielleicht. Unendlich viele Romane liegen rum, zur Hälfte gelesen, angelesen – nur, damit man mitreden kann. Die Frage, die wir uns stellen, lautet immer seltener: Gefällt uns ein Roman? Und warum? Sondern: Funktioniert ein Roman? Und weshalb? Das ist scheußlich, aber kaum zu ändern.
Wenn ich einmal alt bin, so richtig alt, dann werde ich erneut das Gesamtwerk von Thomas Bernhard lesen. Ich liebe seine Sprache, seinen Rhythmus, seine Musikalität – und er ist so herrlich böse. Überhaupt, wenn ich alt bin, dann sind sie alle wieder dran, die Idole meiner Jugend: Hemingway, Heinrich Heine, Garcia Marquez, Dostojewski. „Oblomow“ von Gontscharow lese ich dann bestimmt zwei Mal und lache mir einen ins Fäustchen.
Hast du schon einmal in Erwägung gezogen, selbst ein Buch zu schreiben? Du bist ja als jemand bekannt, der gerne Klartext redet. Vielleicht schreibst du ja irgendwann ein Buch, in dem du dir die Branche – inklusive divaesker Autoren und schwieriger Lektoren – zur Brust nimmst?
Ha! Gedanklich bin ich schon dabei. Veröffentlicht wird es mutmaßlich kurz vor meinem Ableben – damit ich mich nicht mehr mit Schadensersatzklagen wegen persönlicher Diffamierungen rumschlagen muss. An meinem Grab können sie dann rumwüten, wie sie wollen, das ficht mich nicht mehr an.
Einen Teil des Jahres verbringst du in Italien. Woher kommt deine Italienleidenschaft?
Papa, Mama, Schwester und ich: Im Sommer ging es mit dem Auto immer über die Alpen. Papa mit der Zigarre im Mund, Mama mit ihren filterlosen Zigaretten, das Auto nebelverhangen – aber kaum war man über dem Brenner, wurden die Fenster geöffnet. Der Himmel blau, das Essen großartig, die Sprache fremd – und ich befürchte, dass ich sogar ein libidinöses Verhältnis zu den Carabinieri entwickelt habe. Zumindest finde ich sie putzig.
Offensichtlich bist du ohnehin sehr reiselustig. Welches war deine schönste Reise?
Du bringst mich ins Grübeln. Mit Walter Lendl (bedeutendstes Werk: „Darum nerven Österreicher“) die sechs Wochen im Westen der USA? Er, der österreichische, damals noch führerscheinlose Grantler, auf dem Beifahrersitz, der mit seiner Deprimusik unendlich nervte – aber die grandiose Landschaft machte alles wieder wett. Von San Francisco Richtung Norden, vorbei an Mendocino, bis fast nach Oregon. Und weiter durch endlose Wälder, durch die Wüste, Death Valley, nach Las Vegas – und über trostlose Käffer zurück nach San Francisco. Lendl glucksend, fröhlich, die Kamera aus dem Fenster haltend – und irgendwann gab’s sogar halbwegs erträgliche Musik.
Oder waren es die Reisen mit Christina, meiner Lebensgefährtin, nach Vietnam? Ach, Hanoi, ich liebe dich und deine Buntheit und dein Chaos! Du bist meine liebste Großstadt, weltweit.
Eine Reise, die ich nie vergessen werde, die ging in den Tschad, wo meine frühere Freundin arbeitete. In die Rebellengebiete am Logone, dem Grenzfluss zu Kamerun. Nachts klapperten die Krokodile, nur wenige Hütten hatten Strom, und als ich einmal nicht aufpasste und wagemutig alleine loszog, hatte ich ein Messer am Hals.
Wenn diese Reise unter deine schönsten fällt, welche war dann die grässlichste?
Sizilien, Taormina, März 1996. Kaum Geld, die Beziehung am Ende. Alleine in einer billigen Pension, es regnete eine Woche lang in Strömen, es war kalt. Ich hatte alles ausgelesen, nur noch ein sehr überflüssiges Buch von Gisbert Haefs im Gepäck. Als ich mich schlussendlich durch das durchgequält hatte, dachte ich mir: Fahr‘ Richtung Palermo, der Wetterbericht spricht von einem Zwischenhoch dort. Ich steige in den gemieteten Fiat Panda, Sturzbäche überall, das Hotel bezahlt – aber ich konnte nicht losfahren. Einer dieser verbrecherischen Sizilianer hatte mir den Scheibenwischer geklaut.
Salvatore, wenn ich dich erwisch, dann schmeiß ich dich bei lebendigem Leib in den Ätna!
Mit welchem Menschen – egal ob noch am Leben oder schon tot, ob prominent oder nicht – würdest du gerne mal eine Nacht an der Bar verbringen und eine Flasche Whisky leeren (oder zwei)?
Wenn ich gut gelaunt bin: Mit dem Schauspieler Bjarne Mädel, möglicherweise ein Seelenverwandter. Bei schlechter Laune: Mit Markus Söder. Der kriegt zwei Flaschen. Und darf sie auf Ex ganz alleine trinken. Ich schau dabei zu.
Was macht dich glücklich?
Der Lago di Mezzano. Ein kleiner Vulkansee nahe Farnese, meiner italienischen Zweitheimat. Da der Italiener als solcher mehrheitlich nicht schwimmen kann oder will, sondern nur im Meer planscht und sowieso ein bisschen Angst vor Süßwasser und Einsamkeit hat, bin ich dort im Sommer fast immer alleine. Schwimmen, schwimmen, schwimmen. Ruhe. Blauer Himmel. Und in der Ferne der Monte Amiata.
Was ärgert dich maßlos?
Die Ampel da vorne am Eck. Der Deutsche und seine Ampeln. Pro Stunde fahren vielleicht 20 oder 30 Autos da entlang. Siemens, Ampelhersteller, hat mutmaßlich einen Geheimpakt mit der Mineralölindustrie. Und die Deutschen? Niemand begehrt auf. Sie bleiben gottergeben stehen. Deutsche halten sich an die dümmsten Vorschriften. Wie sagte schon Lenin (oder war es Tucholsky)? „Revolution in Deutschland? Das wird nie etwas. Wenn diese Deutschen einen Bahnhof stürmen wollen, kaufen die sich vorher noch eine Bahnsteigkarte!“
Hast du ein Lieblingszitat? Oder ein Lebensmotto?
We want the world, and we want it now. (Jim Morrison, The Doors.)
Welche Frage habe ich vergessen? Und das, obwohl du eine großartige Antwort auf sie gehabt hättest? (Wie lautet die Antwort?)
Literaturagent, das ist dein Lieblingsberuf, das merkt man dir an. Was, wenn die Wege anders verlaufen wären?
Nun ja, Strafverteidiger, das sagte ich oben schon. Gerne auch Diktator. Ein guter Diktator. Einer, bei dem Frau Petry, Herr Seehofer, Herr Söder und dieses Ekel aus Dresden und dieser Hundsfott aus Erfurt nichts zu lachen hätten. Und keine Tiere mehr gequält werden dürften. Und es weniger roten Ampeln gäbe, sondern mehr Rücksicht aufeinander. Und Amazon schon längst dazu verdonnert worden wäre, Steuern zu zahlen, auch rückwirkend. Und die Deutsche Bank nicht mehr Deutsche Bank wäre, sondern eine luxuriös ausgestattete Unterkunft für Neuankömmlinge aus anderen Ländern und Kulturen.
Gibt es das Berufsbild „Gott“? Das wäre eine weitere Option. Als ich noch klein war, sehr klein, und mich meine jüngere Schwester wegen einer Banalität bei meinen Eltern verpetzt hatte, zog ich sie zur Seite und sagte: „Schwesterchen, bitte sag es niemandem weiter. Du musst ganz vorsichtig sein, darfst mich nie verpetzen. Denn ich bin nämlich Gott. Und zu Gott ist man gut.“ Eine Zeit lang glaubte sie das und ich lachte diebisch.
Die copywrite Literaturagentur findet sich hier: www.copywrite.de.
Das Interview führte Melanie Raabe.
Foto: Christina Hucke
Richard, 42, Freising
„I’m not there“
Wie würdest du deine Kindheit und Jugend beschreiben?
Ein trostloser fragmentarischer Ablauf, eher einer Skizze ähnlich als dem Leben. Mein Vater war dem Alkohol nicht gerade abgeneigt. Sämtliche Verwandte und Bekannte erschienen mir merkwürdig. Eigenartige, verschrobene Gestalten, sehr konservativ. Ein immerzu herbstliches Landleben, alles immer unter Zwang. Bei uns wurden keine Bücher gelesen, der kulturelle Einfluss war nicht vorhanden. Hier wurde körperlich gearbeitet, nicht gelesen. Arbeit war überaus wichtig, eigentlich das Wichtigste überhaupt. Niemand wäre auf die Idee gekommen, ein Kind studieren zu lassen oder vorhandene Möglichkeiten auszuschöpfen. So war die Kindheit eine Melange aus Alpträumen und Schattengestalten, eigentlich stetigen Regentagen. Im Rückblick ein hässliches Tim-Burton-Szenario. Alles schief, vom Wind davon getragen. Nachts klopften die Gespenster an das Fenster, daran kann ich mich erinnern. Nicht symbolisch, sondern tatsächlich. Jene Gespenster aus dem Bauch.
Natürlich wollte ich diesem Leben entfliehen. Zur Anpassung neigte ich nie. Als Kind jedoch gibt es für eine Flucht nur wenige Möglichkeiten. Man setzt sich diesbezüglich auch mit dem Sterben auseinander. Dem Suizid, sozusagen. Und wenn man als Kind diesem Gedanken nahe kommt, blickt man in einen Abgrund und stellt relativ früh fest, wie lächerlich alles ist. Jeglicher Zwang. Als Jugendlicher musste ich mich in einigen Berufen versuchen. Das wollten meine Eltern so. Denn, wie gesagt, die Arbeit war das höchste Gut. Körperliche Arbeit, wohlgemerkt.
Leider verliert man dadurch eine Menge Zeit, zahlreiche Möglichkeiten. Die Wege sind vorbestimmt, und das Ausbrechen ein waghalsiges Unternehmen. Erst zu dieser Zeit fing ich an zu lesen. Mein Plan danach war eigentlich einfach: Bücher schreiben, um Zeit für das Leben zu gewinnen. Ich versuchte mich als Journalist im lokalen Bereich. Leider hat nichts davon tatsächlich funktioniert. Ein wenig später dann erlernte ich, eher aus Zufall und Hoffnungslosigkeit, den Beruf der Krankenpflege. Warum? Vermutlich weil die Arbeit am Menschen ebenso abseitig ist wie meine Träume, Leben und Sterben ganz nahe. Neue Reibungspunkte entstanden, da ich schwer, eigentlich kaum mit Hierarchien umgehen kann und will. Vielleicht reanimiere ich deshalb täglich das Kind in mir. Um die Gespenster zu vertreiben.
Du bist Autor. (Und zwar ein guter. Ich wünsche dir Ruhm und Ehre und all das.) Wann und unter welchen Umständen hast du mit dem Schreiben begonnen?
Wie schon erwähnt, begann das Schreiben eher als Befreiungsschlag. Der nicht glückte, aber dennoch einen Impuls freisetzte. Anfänglich als Imitation anderer Autoren. Es entstanden vorwiegend Kurzgeschichten. Man weiß ja, dass man in Deutschland mit Kurzgeschichten keinen Blumentopf gewinnen kann (was ich nach wie vor als äußerst merkwürdig empfinde), sie gelten als vergebene Mühe, als belanglose Fingerübung. Es zählt der Roman. Für längere Erzählungen fehlte mir später dann aber schlichtweg die Zeit. Vor allem Schichtdienst ist ja der Tod aller Kunst.
Dennoch hielt ich regelmässig Lesungen ab und schrieb Bühnen-Programme für mich selbst. Fragmentarische Szenenbilder. Meist mit Musikern, die dann die Texte untermalten. Gastierte in Buchhandlungen, auf kleinen Theater-Bühnen. Das fiel natürlich nicht sonderlich auf. Oft las ich nur für eine Handvoll Zuhörer. Wenn ich darüber nachdenke, hat sich das eigentlich nicht sonderlich geändert.
Dein Buch „Amerika Plakate“ ist bei einem kleinen, feinen Verlag erschienen und hat sehr gute Rezensionen bekommen. Worum geht es in dem Buch?
Verlust, Schuld und Erlösung. Liebe. Jene Themen, die unser Leben beeinflussen wie kaum andere. Aber auch das implizierte Thema, dass nichts vorhersehbar ist. Dass manche Wege unpassierbar sind und manche nur dunkel. Ich schätze Geschichten, die nicht klar verlaufen, die sich immer ein Geheimnis bewahren. Wir kennen immer weniger solche Erzählungen, leider. Heutzutage ist vieles glattgeschliffen, von jeglicher Nebenhandlung befreit. Eine phantastische Geschichte, magisch im besten Sinne von verrückt. Vermutlich nicht allzu einfach, aber das ist nicht sonderlich wichtig. Darf man das sagen? Vermutlich nicht, denn was nicht marktgängig ist, ist automatisch merkwürdig. Verschroben. Ich bin allerdings gern verschroben, muss ich zugeben. Schweifen wir diesbezüglich kurz ab: Schauen wir uns einmal einen Jim Jarmusch Film an. Nehmen wir Night on Earth. Ein wundervoller Film, den ich vermissen würde. Aber natürlich ein extrem verschrobener Film, nicht wahr? Aber dennoch erscheint mir dieser Film wichtiger als der Mittwochs-ARD-Abendfilm. In der Literatur jedoch erleben wir gerade jenes: Alles was merkwürdig ist, geht nicht oder bestenfalls sehr schwer. Das ängstigt mich zunehmend.
Die zugrunde liegende Kurzgeschichte mit dem gleichen Titel kann man sich – sehr schön gelesen von Katharina Wackernagel – anhören. Wie kam es zu dieser Zusammenarbeit?
An einem Winterabend sah ich mir eine Folge der wundervollen Serie „Bloch“ mit Dieter Pfaff an, Katharina Wackernagel spielt seine Tochter. Und ich fragte mich, wie es wohl sei, wenn sie „Amerika Plakate“ lesen würde. Am nächsten Tag schrieb ich ihre Agentur an. Die Kurzgeschichte gefiel Katharina auf Anhieb und so einigten wir uns relativ schnell. Letztendlich natürlich völlig absurd. Es gab weder ein Buch, geschweige denn einen Roman. Nur eine Kurzgeschichte von einem unbekannten Autor. Aber solche Dinge gefallen mir. Später dann wurde diese Aufnahme vom WDR ausgestrahlt, was mich sehr gefreut hat. Grundsätzlich hätte ich gern diese Aufnahme dem Buch beigelegt, was sich allerdings als zu kostspielig herausgestellt hat.
Was bedeutet dir das Schreiben?
Wir alle haben einen Traum. Suchen das versteckte Schlupfloch des Lebens. Um uns selbst Geschichten zu erzählen, wenn die Ostwinde zu kalt werden. Es ist tatsächlich eine schwere Frage, genau betrachtet. Warum tun wir Dinge? Was bedeuten sie? Weshalb lieben wir, weshalb hassen wir? Vermutlich tut man etwas, um Dinge zu verändern. Andere Wege gehen zu können. Mir würde das gefallen – was sich jedoch als unglaublich schwer herausstellt. Schwerer als jemals gedacht. Vermutlich schreibe ich auch, um die Gespenster der Vergangenheit in mir zu unterhalten, um sie zu besänftigen. Um dem Außenseiter in mir eine Gestalt zu geben, einen Namen. Mich zu solidarisieren mit den Verlorenen, den Zerbrochenen. Von ihnen zu erzählen. Vielleicht auch nur, um die Welt zu verstehen.
Was liest du?
Diese Frage ist relativ schwer zu beantworten, weil es lange dauern würde, sie befriedigend zu beantworten. Paul Auster schätze ich ungemein. Friedrich Ani ist meiner Meinung nach einer der besten deutschen Erzähler der Gegenwart. Seine Tabor-Süden-Romane glänzen. Ray Bradbury, Truman Capote, Harper Lee, Stephen King, Joe Hill, Neil Gaiman (zu lange unterschätzt), Friedrich Dürrenmatt, George Simenon, Richard Brautigan (völlig verkannt), Hunter S. Thompson, Charles Bukowski (unbedingt die Maro-Ausgaben kaufen!), Cornell Woolrich. Vor allem mag ich Bücher, die mich überraschen. Die ich vielleicht sogar nicht einmal beim ersten Lesen verstehe. So ging es mir bei Brautigans „Forellenfischen in Amerika“, aber dennoch liebe ich dieses Buch. Und ich liebe das Geheimnis, das darin steckt. Ich möchte nicht beiläufig unterhalten werden, denn dafür kann ich ja auch einen Fernsehkrimi ansehen. Ein Buch muss mich schlaflos machen – egal auf welche Art und Weise. „Shining“ von Stephen King gelingt das anders als Harper Lee.
Was machst du, wenn du nicht schreibst? Hast du einen day job? Was hast du gelernt oder studiert?
Momentan schreibe ich ausschließlich. Vermutlich wird das nicht mehr lange so sein, und ich werde wieder im Pflegeberuf arbeiten müssen. Denn schließlich haben wir nur ein Leben und das kann man nicht mit Warten verbringen. Vor allem braucht man ja auch ein wenig Geld. Ich arbeite gerne mit Schwerkranken, mit Sterbenden. Zuletzt habe ich auf einer Onkologie gearbeitet. Gefallen würde mir aber auch eine Tätigkeit in einer Psychiatrie. Natürlich wäre ich gerne Schriftsteller, würde damit gern ein wenig Geld verdienen. Momentan aber scheint mir dieses Unterfangen relativ aussichtlos. Folge-Publikationen sind nicht in Sicht, wenngleich auch „Amerika Plakate“ sehr positiv aufgenommen wurde. Ich hoffe immer und bete, aber der Himmel bleibt düster. Ein scheußliches Gefühl, vor allem weil ich ja nicht aus der Literatur-Branche komme. Es nicht studiert habe und deshalb auch nicht in diese Richtung arbeiten kann. Letztendlich bin ich ein Arbeiterkind, das gehofft hatte.
Gibt es noch andere Kunstformen neben der Literatur, die dich interessieren?
Meine Geschichten sind immer beeinflusst von Musik und Film. Gerade bei „Amerika Plakate“ ist das sehr deutlich zu erkennen. Ich spiele ein wenig Gitarre. Manchmal male ich, aber nicht sehr gut.
Was würdest du dir von der berühmten guten Fee wünschen?
Würde. Dass wir in Würde leben können. Und in Würde sterben dürfen.
Hast du Vorbilder? Helden?
Literarische Vorbilder sicherlich. Paul Auster und die merkwürdigen Gestalten, abseits vom Mainstream. Im Leben sicherlich Menschen wie die Geschwister Scholl. Aufrechte, unbequeme Leute.
Was inspiriert dich?
Abseitige Geschehnisse. Merkwürdige Bücher, eigenartige Filme. Tom Waits‘ Songs. Obdachlose, taumelnd auf einer Straße, die mich nach Gott fragen und ob es Jesus tatsächlich gibt. Lebensfragmente, alles unfertige. Zerbrochene Dinge inspirieren mich.
Was macht dich glücklich?
Bei Menschen zu sein, dich ich mag, schätze oder/und liebe. Glücklich macht mich auch jener zeitweise Hauch der Möglichkeit, das zu tun, was man möchte. Woran man glaubt. Einfache Dinge. Kaffee und Zigaretten. Ein guter Film. Ein gutes Buch. Charlie Parkers Musik um Mitternacht.
Hast du ein Lebensmotto?
I´m not there.
Oder ein Lieblingszitat?
No Direction Home.
Was ist der Sinn des Lebens?
Dass manchmal selbst der Präsident nackt dastehen muss. Sagt jedensfalls Bob Dylan.
Das Interview führte Melanie Raabe.
Foto: Deliah Lorenz.
Marguerite, 36, Berlin
„Schokolade für alle und Weltfrieden“
Marguerite! Ich folge dir irre gerne auf Twitter. Zum einen, weil du einen großartigen Geschmack hast. Und zum anderen, weil das, was du zu den Themen äußerst, die mich interessieren – Bücher, Kultur, Feminismus… – immer so wunderbar klug und auf den Punkt ist. Wer oder was hat dich und dein Denken am meisten beeinflusst?
Danke für das sehr liebe Kompliment, Melanie!
Am meisten hat mich meine familiäre Umgebung beeinflusst sowie die Regale voller Bücher, die es bei uns zuhause gab. Als Französin in Süddeutschland / Stuttgart aufzuwachsen, hatte für uns viel mit Anderssein, und Doch-dabei-sein-Können zu tun. Das Anderssein manifestierte sich zum Beispiel dadurch, dass meine Eltern beide berufstätig waren und sind und beide gleichermaßen für uns Kinder zuständig und präsent waren. Diese Differenz wurde mir sehr schnell bewusst. Es hat mich auch mit Stolz erfüllt und mich in der Wahl meines Lebensweges stark geprägt. Das Thema Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist dementsprechend eines, was mich heute immer noch beschäftigt und anspricht.
Du arbeitest in der Buchbranche. Woran arbeitest du gerade?
Ich leite zwei digitale Imprints bei den Ullstein Buchverlagen, die wir im Sommer 2014 aus der Taufe gehoben haben.
Gibt es etwas, wofür du hier gerne und ganz schamlos ein bisschen Werbung machen würdest? Das ist die Gelegenheit!
Oh sehr gerne! Wir freuen uns bei Midnight und Forever (zu finden auf http://midnight.ullstein.de bzw. auf http://forever.ullstein.de; Anm. d. Bloggerin) – so heißen unsere digitalen Kinder – immer über tolle Autorinnen und Autoren und über viele neue Leser! Wenn ihr also eine Geschichte geschrieben habt und auf der Suche nach einem Verlag seid, immer her damit! und wenn ihr gerne kurzweilige Lektüre für eure E-Reader sucht, seid ihr bei uns auch an der richtigen Stelle!
Was bedeuten dir Bücher?
Bücher sind für mich Zufluchtsorte und Lernstätten. Sie gehören zu meinem täglichen Leben genauso selbstverständlich wie Essen und Trinken.
Welches sind derzeit deine Lieblingsbücher?
In diesem Jahr habe ich so viele tolle Bücher gelesen, die mich lange beschäftigt haben und die ich unbedingt empfehlen möchte: Why be happy when you could be normal, von Jeanette Winterson. Die komplette Kate-Daniels-Serie von Ilona Andrews, alles von Jeaniene Frost; Der geteilte Himmel, Christa Wolf (endlich Christa Wolf gelesen, nachdem ich das großartige Gesprächsbuch ihrer Enkelin Jana Simon gelesen habe!), Americanah von Chimamanda Ngozie Adichie, My Struggle, pt. I von Karl Ove Knausgaard. Außerdem verschlungen habe ich in diesem Jahr sehr viel Courtney Milan und eine Menge Patricia Briggs.
Und deine Alltime Favourites?
Ich bin ein Riesenfan der Serie Desert Island Discs und könnte dir sofort acht Alben und sogar acht Musikstücke nennen, die meine Alltime Favourites sind und mir etwas bedeuten. Bei Büchern finde ich es absolut unmöglich. Ich schummle also mal und nenne dir drei Lieblingsbücher, die ich so oft als Lektüre empfohlen habe, dass sie bestimmt zu Lieblingsbüchern aller Zeiten wurden: The White Album, Joan Didion; Jahrestage, Uwe Johnson und La Douleur von Marguerite Duras.
Welche Kunstformen interessieren dich neben der Literatur?
Vor allem Kunst und Musik. Musik beeindruckt mich immer, weil ich es irre finde, wie Gedanken in einer Sprache ausgedrückt werden können, die ich nicht schreiben, aber dennoch verstehen kann. Mit Kunst beschäftige ich mich leider nicht mehr so oft wie früher, aber einige Kunstwerke sind, wenn ich sie wieder besuche, ein bisschen wie ein Besuch zu Hause.
Du lebst in Berlin. Was magst du an der Stadt – und was so gar nicht?
Berlin ist eine Stadt, in der es viel Platz gibt und in der wir mit unseren drei Kindern auch gut leben können. Ich bin aber auch schon so lange hier – nämlich seit 1998 – dass ich meine, die besten und wildesten Zeiten der Stadt sowieso schon miterlebt zu haben. Was mich an Berlin immer nervt ist, dass es keinen Horizont gibt, den ich aus der Stadt sehen kann. Und dass der Winter grau und dunkel ist. Das wird aber meist mit einem Wahnsinnsfrühling und -sommer wettgemacht!
Was ist das Aufregendste, was dir je passiert ist?
Als ich 2002 meinen Mann kennengelernt habe. Das war so ziemlich das Aufregendste, weil aus dieser Begegnung alles weitere Aufregende passiert ist. Er kommt aus Kanada und wir haben uns bei der Eröffnung der elften Documenta im völlig unwahrscheinlichen Kassel kennengelernt, mit 6000 Menschen um uns herum. Er war für zehn Tage in Europa, ich nur für die Eröffnung in Kassel. Ein totaler Fall von Liebe auf den ersten (wirklich, den allerallerersten!) Blick. Ob es nun Schicksal oder Zufall war, es war aufregend, und das ist es bis heute.
Hast du ein Vorbild?
Diese Frage hat mich nicht losgelassen. Ich habe Vorbilder in meinen Eltern, die ich schon erwähnt habe. Aber als ich darüber nachdachte, fiel mir auf, dass es in Deutschland sehr wenige Vorbilder gibt für Frauen wie mich. Man liest viel über Frauen, die Babys bekommen und im Beruf bleiben oder aus dem Beruf wegbleiben. Über Frauen, die ein bisschen ältere Kinder haben, liest man gar nichts mehr, möglicherweise, weil wir dann irgendwann zu viel zu tun haben, um auch noch darüber zu sprechen? Weil wir andere Kämpfe kämpfen?
Und weil ich so wenige Vorbilder im öffentlichen Leben sehe, habe ich innerlich beschlossen, selber auch Vorbild zu sein, Rat zu geben etc. Soll heißen, ich dränge mich da nicht auf, finde es aber wichtig die Erfahrungen, die ich gemacht und aus denen ich gelernt habe, an Frauen in meinem Alter oder an Jüngere weiter zu geben und Mut zu machen, dass es Wege gibt, um sein Leben so zu gestalten wie es einem wichtig ist.
Wenn du mich nach weiblichen Idolen fragst, dann bin auch ich nicht immun gegen die POW-ness von Beyoncé, die Vorreiterin Madonna, oder der verrückten Weiblichkeit einer Stevie Nicks.
Was inspiriert dich?
Ich esse wahnsinnig gerne. Und ich meine wirklich wahnsinnig. Deswegen sind Kochen und Backen Aktivitäten, die zwar ganz alltäglich sind, die ich aber immer noch sehr gerne und mit Begeisterung mache. Kochen und Backen sind auch zwei Bereiche, in denen ich wirklich gerne inspiriert werde und für die ich mich aktiv interessiere. Meine Kochbuch- und Kochzeitschriftensammlung kann es bezeugen!
Wenn du für einen Tag die Welt beherrschen dürftest, was würdest du anordnen?
Schokolade für alle und Weltfrieden. Beides vereint dann hier: http://www.splendidtable.org/recipes/world-peace-cookies
Das Interview führte Melanie Raabe.
Foto: privat.