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Rikje, 32, Hannover
„Den Blick auf das Gute wenden“
Rikje! Wenn ich versuche, mir dich als Kind vorzustellen, dann taucht vor meinem inneren Auge ein sehr cooles, sehr wildes kleines Mädchen auf, das auf die höchsten Bäume klettert und vor praktisch nichts Angst hat. Liege ich richtig? Wie war deine Kindheit?
Auha, nun kommt meine wahre Seite zum Vorschein. All diejenigen, die dachten, ich hätte bereits mit sieben Jahren Dreadlocks gehabt, da ich wild geknurrt habe, sobald meine Haare geschnitten oder gewaschen werden sollten, liegen leider falsch. Ich habe sogar, es fällt mir schwer das zu sagen, Matrosenkleidchen getragen, wenn es einen festlichen Anlass gab (jeder Mensch hat irgendwie ein Kindheitstrauma – danke Mama!). ABER: Deine Interpretation ist nicht ganz falsch. Meistens hat mich mein großer Bruder mitgenommen (von dem ich übrigens die alten Kleidungsstücke auftragen musste – das hat mich aber auch nicht sonderlich gestört um ehrlich zu sein), und dadurch kroch ich durch Matsch und Sand, versuchte mit meiner zarten Mädchenstimme grunzende und brutal klingende Geräusche nachzumachen und wurde eigentlich immer irgendwie geduldet. Mein großer Bruder hat mich aber überwiegend ohne Diskussionen im Schlepptau gehabt. Das hat sich ausgezahlt, dafür habe ich statt einer langweiligen Hochzeitsrede einen Text für ihn geschrieben, der die Geschichte des kleinen Zahnlücken-Cowboys auf der Suche nach der perfekten Frau erzählte. Aber die Jugend meines Bruders bot auch einfach das perfekte Futter für einen solchen Text.
Und wie war deine Jugend?
Oh, meine Jugend. Mein kleinster Bruder – ich habe noch zwei kleinere Halbbrüder – steckt mitten im kleinen Horrorladen namens „Pubertät“. Ich bin so unendlich dankbar, dass ich das hinter mich bringen durfte. Alles war peinlich. Selbst atmen in einigen Situationen. Ich war äußerst schüchtern, was Jungs betraf, in die ich „verknallt“ war. Kein Wunder, denn dadurch, dass ich nicht mehr atmete (die Nase könnte dabei ja komische Geräusche machen), sagte ich keinen Ton und rannte ziemlich schnell weg, um nicht zu ersticken. Somit war meine Jugend äußerst behütet – neben den üblichen Streitereien mit den peinlichen Eltern. (Wie sich das Blatt auch wendet: Heute bin ich ihnen eher peinlich – sehr witzig!) Also, Jugend-Rikje begann mit „Bravo“ lesen, in enge Hosen mit Schlag und übergroße Pullis gekleidet „Kelly Family“- und „Backstreet Boys“-Konzerte besuchend. (Jaja, lacht ihr alle). Mit fünfzehn oder sechzehn wurden es dann Hardcore- und Punk-Konzerte. Zum Glück, sonst wäre ich wohl heute noch Jungfrau.
Was wolltest du als Kind gerne werden, „wenn du mal groß bist“?
Da ich bei meinen Großeltern immer viel fernsehgucken durfte – ich bin die Tochter einer Pädagogin –, guckte ich auch viel die Fernsehserie „Quincy“. Damals war mir nicht klar, dass er Rechtsmediziner sein sollte, da er so viel im Gerichtssaal stand. Dadurch dachte ich immer, es wäre total aufregend Anwältin zu sein. Nun, Anwältin bin ich nicht geworden, scheint als hätte mein Verstand dann doch noch gesiegt.
Und was bist du geworden bzw. was wirst du?
Da mein Abi nicht den besten Schnitt hatte, war mir klar, dass das mit meinem Gedanken, „Tiermedizin“ zu studieren, schwierig werden könnte. Somit kombinierte ich knattertonartig und entschied mich dafür, eher ein Medizinstudium anzustreben. Zumindest war die Wartezeit etwas kürzer. Glücklicherweise war ich schlau genug zu wissen, dass ich bestimmt drei Jahre hätte warten müssen, und so begann ich eine Ausbildung zur examinierten Krankenschwester (heute: Gesundheits- und Krankenpflegerin). In meiner Ausbildung bemerkte ich die sehr dominierenden negativen Seiten des Medizinerlebens. Mein einer Lehrer in der Ausbildung brachte mich auf die Idee „Pflegewissenschaft“ und „Deutsch auf Sekundarstufe. II“ zu studieren. Bei diesem Studiengang war es damals noch möglich, mit zwei Abschlüssen abzuschließen. Und so habe ich mein erstes Staatsexamen auf Lehramt und zudem ein Diplom, das mich dazu berechtigt, in der Wissenschaft tätig zu sein. Somit habe ich beides für mich genutzt. Ich arbeite sowohl in einer Kranken- und Kinderkrankenpflegeschule an einer Universitätsklinik als Lehrerin sowie im Bereich der Versorgungsforschung im Bereich Palliativmedizin (Wissenschaftsstellen sind ja meist nur mit 50% Stellen ausgeschrieben – unfassbar!). Darin promoviere ich auch gerade, zumindest versuche ich es.

Bellabellinsky Photographie
Gemeinsam mit deinem Kumpel Mirco Buchwitz hast du zudem ein sehr cooles, sehr lustiges Buch geschrieben, das kürzlich bei Rowohlt erschienen ist („Arschbacken zusammenkneifen, Prinzessin“). Wie kam es dazu?
Danke für dieses Lob, das freut mich! In Kurzfassung: Mirco und ich hatten mal einen Abend zu tief ins Glas geguckt – ach was rede ich, wir waren rotzevoll. Ich erzählte ihm, dass mich diese typischen „frechen Frauenromane“ annerven, da sie den Ist-Stand nicht wirklich darstellen. Meistens sind dies Frauen Mitte Dreißig, die ihren Typen scheiße finden, da er sich zu wenig um sie kümmert bzw. ihre Hollywood-Erwartungen nicht erfüllt. Sie trennen sich dann von ihm, und dort beginnt dann die eigentliche Story. Auf dem Weg der Trauerverarbeitung fahren sie nach Sylt oder zu einem anderen übermäßig teuren Ziel, schmeißen die Kohle zum Fenster raus und finden dann letztlich den perfekten Typen, der mit ihnen Kinder zeugt. Wer sagt, dass eine Frau Anfang/Mitte dreißig unzufrieden sein muss, da sie keine Kinder hat bzw. keinen Typen, der mit ihr potentiell Kinder machen könnte? Wieso dürfen Frauen nicht auch mal ihr „Leben leben“, ohne gleich als „Schlampe“ zu wirken, da sie das machen, worauf sie Lust haben und nicht dem Rollenbild der Gesellschaft entsprechen (es gibt Frauen, die auch gerne Sex haben und das auch gerne leben)? Und überhaupt, wer hat dieses Rollenbild überhaupt erfunden? Männer sind die geilen Hengste und Frauen eben Schlampen. Das Schlimmste: Dieses Urteil treffen überwiegend die Frauen selbst über ihre gleichgeschlechtlichen Mitstreiterinnen. Und welche Frau Mitte dreißig hat bereits selbstständig so viel Geld verdient, dass sie einen schwulen Star-Friseur bezahlen, ein abbezahltes geiles Auto fahren und ihrem überzüchteten Hund „Evian“ zu saufen geben kann? Lustige Passagen haben diese Romane, das möchte ich nicht bestreiten. Doch können wir Frauen nicht auch anders sein, als das, was von uns erwartet wird? Somit kamen wir auf die Idee. Mirco hat irgendwann einfach angefangen zu schreiben, da er viel mehr Erfahrung darin hat als ich. Wir sprachen immer wieder über den Story-Verlauf, über Charaktere, und er ließ mir dann immer wieder die Kapitel zukommen, wozu ich dann noch Dinge hinzugefügt oder verändert habe, und am Ende kam dabei ein Buch raus.
Wird es noch mehr Bücher geben – von euch als Duo oder von dir alleine?
Sowohl als auch. Mirco ist bereits fleißig am Schreiben anderer Romane (ja, der Plural an dieser Stelle war vollkommen bewusst gewählt), und ich plane gerade ebenfalls noch einen Roman. Alles ist denkbar. Mal gucken, was die Zukunft für uns bereits hält.
Als ich dich gegoogelt habe, bin ich über ein Projekt namens Demenz-Poesie gestolpert. Das klingt irre spannend. Was hat es damit auf sich?
Ich werde nun mal etwas förmlicher, da es mir wichtig ist, dabei die Ernsthaftigkeit des Projektes darzustellen und zu zeigen, dass dahinter ein durchdachtes Konzept steckt: DemenzPoesie® ist eine Therapieform zur Gedächtnisrehabilitation von Menschen mit Demenzerkrankung. Meine Kollegin Pauline Füg (sie selbst ist Diplom-Psychologin und ebenfalls Bühnenautorin) und ich machen das zusammen. Das Gedächtnis wird dabei rehabilitiert, indem bestehende Ressourcen genutzt und gefördert werden. Bei DemenzPoesie® erfolgt dies anhand eines sehr lebendigen Vortrags von Gedichten, die die demenzkranken Teilnehmer noch aus Kindertagen kennen. Dadurch werden sie in einer Gruppensitzung – „Session“ genannt – interaktiv und kreativ an Sprache und Rhythmus herangeführt. Anhand von audiovisuellen, haptischen, taktilen und olfaktorischen Reizen werden Menschen mit Demenzerkrankung stimuliert, an ihrer Umwelt aktiv teilzuhaben. Die Förderung der eigenen Sprache, des Ausdrucks, der Wahrnehmung und des positiven Gruppengefühls werden dabei verfolgt. Zum Ende jeder Session wird gemeinsam mit den erkrankten Teilnehmern ein so genanntes Improvisationsgedicht erschaffen. Nachdem ich in New York hospitierte, wird anlehnend an das im Museum of Modern Art in New York seit 2009 durchgeführte Projekt “The MoMA‘s Alzheimer‘s Project” (gefördert vom US-Ministerium für Bildung [Department of Education]), seit 2013 das DemenzPoesie®-Projekt in der Form erweitert, dass die Sessions neben in Seniorenheimen auch in Museen vor Kunstgemälden und -gegenständen stattfinden. Dazu werden die Gemälde und anderen Kunstwerke gemeinsam mit dem demenzerkrankten Menschen betrachtet, besprochen und dazu passende Gedichte vorgetragen. Diese Umsetzung erfreut sich steigender Beliebtheit, und so wurden Sessions in unterschiedlichen Museen (Kunst-, Historische- und Heimatmuseen) in ganz Deutschland durchgeführt. Die Konzeption und Durchführung der DemenzPoesie®-Sitzungen geschah in enger Zusammenarbeit mit dem Erfinder: Der amerikanische Poet Gary Glazner rief 2004 das Alzheimer‘s Poetry Project ins Leben.
Du hast auch noch in anderer Hinsicht mit Poetry zu tun: Du trittst bei Poetry Slams auf! Chapeau! Ich finde den Gedanken, bei einem Poetry Slam mitzumachen, in etwa so verlockend wie ein Date mit einem hungrigen Grizzly. Seit wann machst du das und was reizt dich am gesprochenen Wort?
Mit Poetry Slam wurde ich bereits 2004 in meinem Studium konfrontiert. Daraufhin fing ich an, öfter als Gast dort anwesend zu sein. Damals waren die Zuschauerräume noch übersichtlich gefüllt, und die Texte waren experimentell. Sehr spannend, teilweise etwas merkwürdig, aber individuell und angenehm fern vom Mainstream. Ich selbst hatte mich aber nie getraut, dort aufzutreten, obwohl es mich immer gereizt hat. Da ich mir 2009/2010 zum Jahreswechsel vorgenommen hatte, mich Herausforderungen zu stellen, die ich bis dato nicht durchgezogen hatte, kam es dann am 18.02.2010 zu meinem ersten Poetry-Slam-Auftritt in Hannover. Für zwei Jahre war ich dann, so wie es mein Arbeitspensum zuließ, auf einigen Poetry Slams und Lesebühnen unterwegs. Nach einer Zeit bemerkte ich auf den Slams eine Veränderung für mich, die mir selbst nicht mehr so gefiel. Es galt nur noch, den lustigsten Text mit der besten Performance zu haben und nicht mehr, sich auf schriftstellerischer Ebene auszuprobieren und neues zu probieren. Deine Aussage „ein Date mit einem hungrigen Grizzly zu haben“ trifft es meiner Meinung nach. Es hatte mich auch irgendwann so sehr blockiert, dass ich beim Schreiben darüber nachdachte, ob es denn beim Publikum „ankommen würde“, anstatt diese Geschichte nach meinen Ideen und Gedanken zu verfassen. Somit bin ich nicht mehr auf Slams unterwegs, denn das Format passt nicht mehr zu mir. Es gibt viele Menschen, die sind hervorragende Slammer und die bewundere ich dabei. Ich selbst hätte Lust, eine hervorragende Schriftstellerin zu werden, aber diesen Wunsch haben ja viele. Somit schreibe ich weiterhin für mich, habe Spaß dabei, und wer weiß, vielleicht darf ich irgendwann damit meinen Lebensunterhalt verdienen. Das wäre ein Lebenswunsch. Drückt mir die Daumen!

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Die Daumen sind gedrückt. Welche Poetry Slammer sind es denn, die du bewunderst?
Pauline Füg – sie ist schon ewig dabei, hat einen eigenen Stil kreiert – der leider zu viel kopiert wurde – und kämpft sich mit ihren sehr guten lyrischen Texten (echte Lyrik, keine Hausfrauenlyrik) weiterhin auf den Bühnen durch, obwohl Personen aus dem Publikum anfangen, laut zu reden oder gar laut zu rülpsen. Schade! Sehr schade!
Und wen liest du? Wer sind deine Lieblingsautoren?
Ehrlich gesagt lese ich beruflich bedingt viel Fachliteratur und wenig Romane. Ich dürfte dies zwar nicht zugeben, aber ich oute mich jetzt hier. Ansonsten liebe ich Roald Dahl und Jonathan Safran Foer. Mirco Buchwitz schreibt auch in einer faszinierenden, individuellen Art, was ich unabhängig von unserer Zusammenarbeit hier mal erwähnen möchte.
Für wen – egal ob berühmt oder nicht, ob Mann oder Frau, lebendig oder tot, real oder fiktiv – schwärmst du?
Puh, früher hätte ich was von Johnny Depp erzählt, aber irgendwie wird der immer unspektakulärer, seit er in einer Art Midlife-Crisis steckt. Irgendwie habe ich aufgehört zu schwärmen. Wenn ich mir aber mal eine Person aussuchen dürfte, mit der ich eine Kneipentour machen möchte, dann sage ich selbstbewusst „Carolin Kebekus“. Obwohl sie unser Horbüch eingelesen hat, hatte ich leider nicht das Vergnügen, sie selbst kennen lernen zu dürfen. Ich denke aber, wir hätten gemeinsam verdammt viel Spaß.
Was ist das Schönste, das dir jemals passiert ist?
Ich war mal für vier Monate in Australien, aber bevor ich das machte, fragte ich mich, ob es denn so eine gute Idee sei, die ganzen Ersparnisse dafür zu verbraten und ganz allein mit mindermäßigen Englischkenntnissen dahin zu fliegen. (Meine Mutter ist Englisch-Lehrerin, ich denke jedem ist nun klar, welches mein schlechtestes Schulfach war). Ich war bereits im Studium und arbeitete nebenher auf einer Station als Krankenschwester. Ich war zum Spätdienst eingeteilt und ein Mann klingelte, sodass ich sein Zimmer aufsuchte. Er selbst war an Morbus Parkinson erkrankt und wollte vom Badezimmer zurück in sein Bett begleitet werden. Menschen mit Parkinson können einen so genannten Stupor bekommen. Sie können zwar klar denken, aber der Körper führt keine Bewegungen mehr aus, und sie verfallen in eine Art „Starre“. Er entschuldigte sich und sagte, dass er einen Moment brauche, bis er sich wieder bewegen könne. Ich verdeutlichte ihm, er solle sich die Zeit nehmen, die er brauche, und ich wäre jetzt nur für ihn da. Er erzählte mir, er habe früher viel gearbeitet, hätte eine eigene Gärtnerei gehabt und viel Geld damit verdient. Immer hätte er sich gesagt, er wollte auf Reisen gehen, wenn er in Rente sei. Mit seinem Rentenbescheid kam jedoch fast zeitgleich seine Diagnosestellung, weswegen er nichts von der Welt gesehen habe. Er klopfte mir auf die Schulter, sah mich an und meinte mit einer tiefen Weisheit in seinen Augen: „Mädchen, was immer Sie tun, tun Sie es jetzt.“
Nach meiner Schicht fuhr ich nach Hause und buchte sofort meinen Flug. Mein Australienaufenthalt im Jahr 2008 war mit das Beste, das ich in meinem Leben bisher getan habe. Ich sehe diesen Herrn als eine Art Erfüllungsgehilfen für einen absolut wichtigen Teil meines Lebens an. Durch ihn habe ich gelernt, dass ich keine Konjunktive in meinen Erzählungen finden möchte, da ich es getan und nicht „immer nur drüber nachgedacht“ habe. Ich konnte es ihm nie mitteilen, doch hoffe ich, dass er es spüren konnte.
Was ist das Schlimmste, das dir jemals passiert ist?
Meine Schulzeit in Verbindung mit meiner Pubertät – die Hölle!
Welches ist die wichtigste Lektion, die du bisher gelernt hast?
Sei dankbar!
Was inspiriert dich?
Das Leben. Dazu muss ich viel reisen und viel erleben. Ich kann nur selten stillsitzen, da ich mich sonst langweile. Sonnenbaden beispielsweise wäre für mich eine Foltermethode!
Hast du Vorbilder?
Die Erfinder von „Dschungel-Camp“. Eine unglaublich geniale Idee, die die Menschen (vor allem die Akademiker, wie es ja immer gesagt wird) vor den Fernseher zieht ,um irgendwelche „Promis“ dabei zuzugucken, wie sie ekelige Sachen machen und essen müssen. Grandios! Die haben sich zu Recht eine goldene Nase verdient. Immer wieder frage ich mich: „Verdammt, wieso hattest du nicht einen so genieartigen Gedanken?“
Was macht dich glücklich?
Reisen, meine Familie, meine Freunde, Menschen treffen, viel reden – manchmal zu viel –, Essen, Bier, gute Filme, stumpfe TV-Shows (Bauer sucht Frau ist bei mir auch ganz weit oben), Fleisch und Wurst, Käse und Quark, Marmelade, Gartenarbeit, kochen, PC-Spiele spielen… Manchmal auch schreiben (an alle nicht Autoren: das kann verdammt harte Arbeit sein!).
Was ist der Sinn des Lebens?
Die Erfindung von kalorienarmer Schokolade bei gleicher Geschmacksintensität!
Ernsthaft: Mein Sinn liegt darin, den Blick auf das Gute zu wenden, auch wenn das Schlechte Oberhand gewinnt. Sonst gibt es irgendwann nur noch Psychiatrie-Blöcke, die wir als unsere Wohnadresse angeben.
Das Interview führte Melanie Raabe.
David, New York City
„Freedom. We have some. I want more.“
David! Du lebst in New York, stammst aber aus San Francisco, wenn ich mich recht erinnere. Wie war es, dort aufzuwachsen?
Ich stamme tatsächlich aus Santa Rosa, einer nördlich von San Francisco gelegenen Stadt. Man überquert die Golden Gate Bridge und fährt 60 Meilen nördlich Richtung Sonoma County, wo der größte Teil von Kaliforniens Wein produziert wird. Eine wunderschöne, malerische Gegend, vor allem in der ländlichen Gegend, in der meine Eltern wohnen. Als Kind habe ich es geliebt, in Santa Rosa zu leben. Ich konnte draußen spielen, alle möglichen Tiere in den Feldern und Bächen fangen. Wir hatten Kühe, Hühner, Gänse, Schafe und andere Tiere, die wir gefüttert und mit denen wir gespielt haben. Als Teenager begann ich es zu hassen, in Santa Rosa zu leben. Ich habe mich isoliert und ungewollt gefühlt in einer Stadt, die – wie ich erfahren habe – nicht gerade die toleranteste ist. Mir wurde klar, dass meine Familie in einer Art – wie ich es nenne – „ländlichem Ghetto“ lebte: Hauptsächlich arme, schwarze Familien, die alle in einer Gegend wohnten, die die Stadt ganz bewusst nicht eingemeindete, so dass bestimmte öffentliche Dienste wie Wasser, Abwasser, Elektrizität und Straßen Jahrzehnte hinter der Zeit zurück waren in Vergleich zu dem, was in der unmittelbaren Nachbarschaft Standard war. Wir hatten auch keine Highschool in der Gegend, also wurden ich und meine Freunde aufgeteilt und im Bus zu Schulen in anderen Nachbarschaften gefahren. An meinem ersten Schultag wurde ich begrüßt, indem man mich mit Äpfeln bewarf und mir „Geh dahin zurück, wo du hergekommen bist!“ zurief. Die anderen schwarzen Schüler und ich hatten auch Drohbriefe von der Neonazi-Gruppe „White Aryan Resistance“ mit Bildern von Lynchjustiz in unseren Schließfächern. Unsere Schule hat nichts unternommen, um uns zu helfen. Ich bin schließlich auf eine etwas etwas offenere Schule gewechselt, zu der auch viele meiner Freunde gingen. Es war nicht perfekt, aber ich konnte mich auf’s Lernen und auf meine Musik konzentrieren. Außerdem traf ich dort andere schwule Jungs. Das war super. Schließlich habe ich mich entschieden, weit, weit weg von Santa Rosa auf’s College zu gehen, nämlich auf’s Berklee College of Music.
Wie groß ist deine Familie?
Meine Kernfamilie besteht aus meinen Eltern Helen und Bill, und meinen Brüdern Terry, Elijah und Willie. Ich bin der drittälteste Sohn.
Lebt deine Familie noch in Kalifornien? Besuchst du sie oft?
Meine Eltern leben nach wie vor in dem kleinen Haus, in dem ich aufgewachsen bin, und zwar mit meinem jüngeren Bruder Willie, seiner Frau und fünf Kindern.
Was bedeutet Familie für dich?
Familie ist das Fundament, auf dem du dir ein glückliches Leben aufbauen kannst. Das sind die Leute, die dich ermutigen, zu wachsen – trotz der Herausforderungen, die dir begegnen. Ich bin mit einer sehr liebevollen und unterstützenden Familie gesegnet.
Wie ist es, in New York zu leben?
New York ist verrückt, und ich liebe es. Ich bin wie mesmerisiert von seinen Kontrasten und Widersprüchen, Schmutz und Schönheit, Vielfalt und Ungleichheit, Opulenz und Mangel. All das passiert gleichzeitig, drunter und drüber. Jahr für Jahr wird es schwerer, hier zu leben – und gleichzeitig noch schwerer, wegzugehen.
Als schwarze Deutsche interessiert es mich, wie es ist, heutzutage, im Jahr 2013, schwarz zu sein und in den USA zu leben. Wie siehst du das?
In den USA schwarz zu sein, hier und heute, 2013, ist kompliziert. Ganz allgemein glaube ich, dass Rassismus und Vorurteile schwächer werden, oder zumindest subtiler, aber das hängt auch davon ab, wo du bist, wie dein Bildungsstand ist, welcher Klasse zu angehörst; diese Faktoren beeinflussen, wie du behandelt wirst und wie es dir ergeht. Als schwarzer, gebildeter Mann in Manhattan, als Mann mit einem guten Job und einer eigenen Immobilie stehen die Dinge ziemlich gut. Ich habe die meisten Tage das Gefühl, gleichwertig behandelt zu werden; aber gelegentlich werde ich immer noch von der Polizei angehalten, in bestimmten Läden oder Restaurants schlechter bedient, von Taxifahrern ignoriert; manchmal wird automatisch angenommen, dass ich der Postbote bin – solche Dinge. Ich weiß aber, dass das nichts ist verglichen mit dem, was schwarze Männer erleben, die weniger gebildet sind, in einer anderen wirtschaftlichen Situation sind oder in anderen Gegenden leben. Ich glaube, die zwei Amtszeiten von Präsident Obama haben einen wirklichen Dialog eröffnet, den Horizont vieler Menschen geöffnet und neue Möglichkeiten aufgezeigt. Gleichzeitig hat das dazu geführt, dass Menschen mit rassistischen Ansichten Gleichgesinnte mobilisiert haben, um alles beim Alten zu halten.
Als Frau mit vielen schwulen Freunden interessiert mich natürlich auch, wie es ist, als schwuler Mann in den USA zu leben. Wie empfindest du das?
Schwul sein in den USA, das empfinde ich als ganz ähnlich wie schwarz sein in den USA. Alles in allem wandeln sich die Dinge zum Besseren. Aber das hängt wiederum davon ab, wo du lebst, welcher Klasse du angehörst, wie gebildet du bist. Die gleichen Leute, die rassistische Ansichten haben, tendieren auch dazu, homophob zu sein, obwohl ich auch schon Rassismus durch andere Schwule erfahren habe, oder Homophobie durch andere Schwarze. Aber je mehr von uns sich outen und je mehr unserer heterosexuellen Verbündeten den Mund aufmachen, desto eher werden den Leuten die Augen geöffnet werden. In puncto Ehe werden wir im ganzen Land in 10, 15 Jahren volle Gleichheit vor dem Gesetz erreicht haben, da bin ich mir sicher.
Wo lebst du in New York? Was magst du an deiner Nachbarschaft und was hasst du?
Ich wohne in Manhattan, im Teil West Harlem. Die Gegend heißt Hamilton Heights. Ich liebe sie. Ich verlasse mein Gebäude mit Eigentumswohnungen, trete auf den Riverside Drive hinaus und sehe den Park, in dem ich als freiwilliger Helfer arbeite. Ich ziehe mein eigenes Gemüse im Riverside Valley Community Garden. Ich fahre sogar jeden Tag mit meinem Rad in die Stadt – entlang des Hudson River. Was mich am meisten stört an der Gegend, in der ich wohne, ist deckungsgleich mit der größten Beschwerde, die ich über New York im Allgemeinen habe: Müll und Hundescheiße. Wir müssen die Leute wirklich besser erziehen, was das Wegwerfen von Müll betrifft und das hinter ihren Hunden saubermachen, und wir müssen Strafen einführen.
Erzähl ein bisschen was über dich. Was ist dein Job?
Ich bin ausgebildeter Sänger mit einem Abschluss in Musik. Ich singe in Bands und Chören, toure und nehme Musik auf seit ich 14 bin. Ich habe mir eine lange Pause von der Musik gegönnt, weil es nicht mehr so viel Spaß gemacht hat, und weil ich mehr Stabilität wollte. Ich arbeite als member experience manager für AIGA the Professional Association for Design. Das ist eine durchaus anständige Art, meinen Lebensunterhalt zu verdienen und gleichzeitig weiter mit anderen kreativen Leuten zu arbeiten, und ich war so in der Lage, mir eine Eigentumswohnung in Manhattan zu kaufen. Jetzt, wo ich das Gefühl habe, ein wenig Wurzeln geschlagen zu haben, widme ich mich wieder mehr meinen Leidenschaften wie der Gartenarbeit oder der veganen Küche.
Vergangenes Jahr bin ich ein großes Risiko eingegangen und habe ein Café eröffnet. Ich hatte keine Erfahrung und kein Geld, bin einfach ins kalte Wasser gesprungen. Meine Karte mit lokal gerösteten Kaffees, mit Tees, Smoothies, Säften, Paninis, Salaten und Backwaren bekam super Kritiken und wurde gut aufgenommen, aber das Gebäude, das ich gemietet hatte, die Leute, von denen ich es gemietet hatte, die ganzen Steuern und Gebühren und all das haben dazu geführt, dass ich das Café diesen Juli geschlossen habe. Es war traurig, aber auch eine große Erleichterung.
Wolltest du schon immer ein Café eröffnen?
Ich habe immer davon geträumt, ein Café zu besitzen, und ich bin froh, dass ich es einfach gemacht habe. Ich arbeite langsam daran, ein anderes Café in Harlem zu eröffnen, aber ich habe keine Eile.
Hast du ein Vorbild? Zu wem schaust du auf?
Zu meiner Mutter. Sie hat die Stärke, Kraft und Ausdauer der Liebe. Ich hoffe, es in meinem Leben genauso machen zu können.
Was ist dein größter Traum?
Freedom. We have some. I want more. (Hier spare ich mir einfach mal die Übersetzung, weil’s so schön ist. Anm. d. Bloggerin)
Was inspiriert dich?
Die Natur.
Hast du eine Lebensphilosophie?
Liebe.
Was würdest du gerne in 10 Jahren machen?
Ich will machen, was ich will, wann ich will und wie ich es will.
Das Interview führte Melanie Raabe. Be friendly! Meet me at http://www.facebook.com/mademoiselleraabe.
Alle Fotos: privat
Kerstin, 32, München
„Be a light, not a judge“
Kerstin! Du hast eine ganze Weile in New York gelebt. Was hat dich in den Big Apple verschlagen?
Ich habe seit ich klein bin den Traum gehabt, mal am Broadway zu sein. Als ich 2005 als Musicalstudentin das erste Mal da war, um ein Auslandssemester zu machen, habe ich mich einfach in die Stadt verliebt, in die Energie, die da ist. Wie man da arbeiten kann, wie dort gearbeitet wird, wie die Leute da beruflich mit einander umgehen, das hat mir wahnsinnig gut gefallen. Und das Tempo auch. Und dann wollte ich einfach immer wieder hin.
Wie wird man in New York als deutsche Schauspielerin aufgenommen?
Ich wurde dort sehr gut aufgenommen, weil ich aber auch sehr positiv bin. Ich habe eine wahnsinnig positive Einstellung zu allen, und das mögen die und das sind die von Deutschen nicht unbedigt gewohnt. Und die finden natürlich auch alles, was nicht amerikanisch ist, total exotisch.
Warum hast du New York wieder den Rücken gekehrt?
Damals hinter meiner Schule, 2005, war eine Schießerei zwischen 13-Jährigen wegen Drogen. Die haben zwei Polizisten erschossen. Damals bin ich deswegen dann auch wieder weg, weil ich echt Schiss hatte. Und dieses Mal bin ich back for good in Bavaria, weil ich gemerkt habe, dass ich alles, was ich in New York gesucht habe, auch hier habe. Ich musste einfach sehr weit reisen und gehen, um zu merken, was mir wichtig ist und was ich eigentlich brauche, und seitdem bin ich auch hier sehr glücklich.
Mittlerweile lebst du in München. Hast du das Gefühl, angekommen zu sein oder meinst du, es zieht dich bald wieder weg?
Ja, ich habe das Gefühl, angekommen zu sein, endlich. Ob es mich weg zieht weiß ich nicht, ich weiß nur, dass ich es nicht mehr verwenden werde, diese Reisen, Übersee, um vor etwas zu fliehen. Der Drang, ganz weit weg zu ziehen, der ist glaube ich jetzt nicht mehr so da.
Du bist eine wunderbare Schauspielerin, Sängerin und Tänzerin. Empfindest du es als Segen oder als Fluch, multipel begabt zu sein?
Ich empfinde das absolut als einen Segen, ganz klar. Also mittlerweile. Am Anfang wollte ich mich immer für eine Sache entscheiden, habe sehr nach einer Lösung für meinen Beruf gesucht. Weil man ja gerne Klarheit hat. Aber jetzt habe ich gemerkt, dass es das Tollste ist, was ich mir vorstellen kann, so viele Möglichkeiten zu haben, mich auszudrücken. Zu Spielen, zu Singen, mich zu bewegen…
Hast du künstlerische Vorbilder?
Sehr viele Kollegen sind für mich Vorbilder. Ich kann da jetzt keine wirklichen Namen nennen, aber ich finde Kollegen toll, die schon lange im Beruf sind, die nicht kaputt sind und die bodenständig geblieben sind. Du hast zwar nach künstlerischen Vorbildern gefragt, aber das sind für mich Vorbilder in meinem Beruf, denn die haben dann meistens auch was drauf.
Mit welchem Künstler würdest du wahnsinnig gerne mal zusammen arbeiten?
Ich würde gerne mit Muse ein Lied aufnehmen (lacht), so als special guest, wenn das möglich ist. Was Film anbetrifft, würde ich gerne mal mit Martin Scorsese arbeiten, den finde ich ganz toll.
Du praktizierst Yoga, vor allem Bikram Yoga. Kannst du mal erklären, was das ist und warum du es den hundert anderen Yoga-Formen vorziehst?
Ich ziehe Bikram Yoga allen anderen Yoga-Formen vor, weil es das Yoga ist, das mich am meisten zum Schwitzen bringt, weil es ja bei 40 Grad praktiziert wird. Ich brauche etwas, das mich auspowert, das mich anstrengt. Ich habe noch nicht so viele Yoga-Formen ausprobiert, aber ich habe gemerkt, dass Bikram toll für meine Muskulatur ist, für meine Kondition, für die Haut. Und es macht mir einfach sehr viel Spaß, ich mag das Tempo dabei. Ich bin auch niemand, der vor’m Yoga chantet, also dieses meditative Singen praktiziert. Das ist nicht so meins. Ich mache das lieber als Sport.
Du strahlst sehr viel Ruhe und Zuversicht aus. Wie schaffst du es, gelassen zu bleiben, selbst wenn es um dich tobt und stürmt?
Das mit der Ruhe und Zuversicht sieht manchmal nur so aus, aber natürlich arbeite ich daran. Vielleicht wird das dadurch nach außen hin mehr und mehr sichtbar. Das ist ein ständiger Prozess und eine ständige Arbeit. Mittlerweile macht mir diese Arbeit Spaß, und ich meditiere ein bis zwei Mal am Tag. Wenn man sich sehr auf das eigene Innenleben konzentriert, dann kann einen das, was außen ist, auch nicht mehr so hin und her schleudern. Da bekommt man ein Vertrauen in das Leben und in die Richtigkeit von allem.
Welche Rolle spielt Spiritualität in deinem Leben?
Schon eine große. Kommt darauf an, wie man das definiert. Ich würde mich nicht als esoterisch bezeichnen, aber ich bin sehr energetisch. Ich finde, es sind ganz viele Energien um uns herum, und gerade im künstlerischen Beruf merkt man das ja auch ständig und arbeitet damit. Da bemerkt man ja, was da alles zwischen Himmel und Erde ist, das man nicht erklären kann. Und ich glaube das gehört zu Spiritualität dazu, diese ganzen Energien.
Hast du eine Lebensphilosophie?
Ich habe eine, die stammt von Anthony Hopkins. Die kann ich mittlerweile schon ganz gut unterschreiben mit meinen 32 Jahren: „Ich erwarte nichts und akzeptiere alles.“ Finde ich total toll. Und ich finde auch ganz toll: „Be a light, not a judge“. Weil einfach viel zu viel verurteilt wird in unserer Welt. Das würde ich auch als Lebensphilosophie betrachten: Leute und Situationen nicht zu beurteilen und stattdessen im Moment zu leben.
Wer oder was inspiriert dich?
Alle meine Freunde inspirieren mich jeden Tag. Die Natur inspiriert mich – (lacht) ich merke gerade, ich klinge total esoterisch, aber egal. Inspiration finde ich eigentlich überall, auch im Unterricht bei meinen kleinen Musik-Schülern. Die Musik inspiriert mich total.
Was macht dich glücklich?
Wenn ich arbeiten darf – das macht mich glücklich, wenn ich singen darf, wenn ich spielen darf, wenn ich am Set bin, wenn ich im Tonstudio bin, wenn ich mit Freunden bin, wenn ich in der Natur bin, wenn ich einfach nur die Bäume angucke von unten, die vielen Blätter und den Himmel und die vorbei ziehenden Wolken – das macht mich tatsächlich ganz, ganz arg glücklich.
Das Interview führte Melanie Raabe. Be friendly! Meet me at http://www.facebook.com/mademoiselleraabe. Ganze Biographien von mir gibt’s auf http://www.geschenkbuch-deluxe.de.
Fotos 1, 2 und 4 von oben: Robert Kohlhuber, Foto 3 von oben: Hagen Schnauss
Frank, 31, Berlin
„Keine halben Sachen“
Frank, du wohnst in Berlin, bist in Oberberg aufgewachsen, aber ursprünglich kommst du aus Hermannstadt in Siebenbürgen. Wie alt warst du, als deine Familie umgezogen ist?
Ich war zarte acht Jahre alt.
Ich war sieben, als meine Familie vom platten Land in der Nähe von Jena nach Oberberg gezogen ist. Ich fand’s aufregend – neue Freunde, neue Erlebnisse… Wie war das so für dich?
Ich glaube, ich war extrem schüchtern damals und durch das ständige Hin- und Herziehen, bis wir endlich im Oberbergischen Kreis landeten, hielt sich die Aufregung bei mir in Grenzen. Es hat schon eine Weile gedauert, bis ich Freunde gefunden und mich gegenüber der neuen Heimat geöffnet habe. Ich habe noch ziemlich lange mit „zu Hause“ Siebenbürgen gemeint, wenn ich mich mit meiner Familie unterhalten habe.
Deine siebenbürgischen Wurzeln bedeuten für mich vor allem: das fabelhafte Essen deiner Mom. Und für dich?
Ja, das ist schon ein großer Teil dessen, das hast du richtig erkannt! Ansonsten sind die geschichtlichen Wurzeln für mich als Nebenfachhistoriker natürlich faszinierend. Alles andere ist schwer zu beschreiben. Ich fühle mich jedes Mal wie im siebten Himmel, wenn ich dort bin und auf den Spuren meiner Kindheit wandle. Ich werde dann total sentimental und würde am Liebsten der ganzen Welt zeigen, wie schön es dort ist und was es alles zu entdecken gibt. Vielleicht mache ich das ja auch mal, später…
Du warst schon in Berlin angekommen, lange bevor „alle“ hingezogen sind. Ist Berlin immer noch die Stadt für dich?
Naja, das denkt, glaube ich, so ziemlich jeder von sich, der schon mindestens sechs Monate hier wohnt. (lacht) Nach über zehn Jahren Berlin bin ich der Stadt immer noch nicht überdrüssig. Mich nerven mittlerweile zwar einige Dinge ziemlich, aber andere möchte ich wiederum auch nicht missen. Die Stadt verändert sich sehr mit den vielen, vor allem jungen Leuten, die herziehen, um sich hier auszutoben und ihre Berlin-Illusion auszuleben beziehungsweise enttäuscht zu werden. Und wenn mir das alles dann irgendwann auf den Sack geht, ziehe ich raus nach Schöneweide und vergentrifiziere ein paar alteingesessene Nazis oder fliehe gleich ins Ausland.
Gibt es noch eine andere Stadt, in der du dir vorstellen
könntest, zu leben?
Schwer zu sagen. Ich mag viele Städte, aber ich könnte selbst von New York nicht sagen, ob ich es dort auf Dauer so lange aushalten könnte, wie in Berlin. Also um es zu versuchen, würde ich vielleicht mit New York anfangen… und wenn das Geld nicht reicht, dann Hamburg.
Was liebst du an Berlin?
Die Geschichte an jeder Straßenecke, die vielen Kieze, gute Currywurst, die Freizügigkeit, das viele Grün, Baulücken, den ÖPNV, all die lieben Menschen, die ich hier kennenlernen durfte.
Und was hasst du an der Stadt?
Die überdurchschnittlich starke Selbstbezogenheit und Ignoranz vieler Leute, das Gefühl, ungefragt Statist in einem großen Vergnügungspark zu sein, das Fehlen eines zukunftsfähigen und durchdachten Stadtentwicklungskonzeptes – ganz ehrlich!
Lass uns über Kunst reden. Hast du momentan einen Lieblingskünstler – aus welcher Sparte auch immer?
Da muss ich wirklich nachdenken. Also aus dem zeitgenössischen Bereich: Neo Rauch und Norbert Bisky. Letztes Jahr habe ich nach einem Museumsbesuch in Chemnitz Otto Dix für mich entdeckt. Was Kunst und Kultur grundsätzlich angeht, interessiere ich mich besonders für Fotografie, die Klassische Moderne und Mariah Carey. (lacht)
Welcher Künstler hätte deiner Meinung nach mehr Aufmerksamkeit verdient?
Der Musiker Le1f, die Fotografen Herbert Tobias und Frieda Riess – und Iwan Rheon. Diese Augen!
Ob Foto, Performance, Skulptur, Bild, Song oder wasauchimmer – welches Kunstwerk hat dich in letzter Zeit am meisten beeindruckt?
Während der Recherche für meine Magisterarbeit bin ich wieder über den chinesischen Künstler Xu Bing gestolpert. Sein „A Book From the Sky“ von 1988 hat mich sehr fasziniert. Er hat unzählige Schriftrollen und Buchseiten mit tausenden erfundenen Schriftzeichen bedruckt, die zwar chinesischen Zeichen ähneln, aber keine echten sind. Die vielen Druckstempel mit den fiktiven Zeichen hat er in jahrelanger Arbeit selbst geschnitzt. Das Spiel mit Sprache und Schrift ist sehr charakteristisch für ihn und hat mich sehr fasziniert. Als ich mit meinem Studium anfing, wurde
„A Book From the Sky“ gerade in Berlin ausgestellt, und ich möchte mich immer noch dafür in den Arsch beißen, dass ich nicht hingegangen bin.
Du hast während deines Sinologie-Studiums ein Jahr in China verbracht – hauptsächlich in Shanghai. Wie würdest du diese Erfahrung zusammenfassen?
Insgesamt als sehr erkenntnisreich und wertvoll. Ich würde zwar nicht gleich mit dem Wort „Kulturschock“ um mich werfen, denn das klingt irgendwie abwertend, aber die Andersartigkeit der Alltagskultur und die andere Perspektive auf die Welt fand ich echt aufregend – im Guten, wie im Schlechten. Vieles was andere „Westler“ um mich herum damals einfach nur „nervig“ oder „komisch“ fanden, hat mich meist neugierig gemacht. Ich habe die Andersartigkeit nie bewertet, sondern einfach als Realität angenommen, und das hilft beim Verständnis einer neuen Umgebung. Eine Erfahrung, die ich niemals missen möchte.
Hast du noch Kontakte nach China?
Ja, ich habe noch einige Freunde und Bekannte dort, die ich nach meinem Abschluss wieder besuchen möchte. Einige haben mich in Berlin besucht und je mehr ich von den Veränderungen in Shanghai, Peking und Co. höre, desto größer wird mein Fernweh.
Genau wie ich bist du auch ein ziemlicher Serienjunkie. Hast du das Ende von 30 Rock schon verkraftet?
Hach, das war schon schwer, das muss ich zugeben. Es war ’ne großartige Serie, die aber zum Glück rechtzeitig aufgehört hat. Tina Fey wird uns sicherlich noch mit schönen Sachen beglücken.
Was sind momentan deine Lieblingsserien?
Ähm, hier meine obligatorische Liste: Parks and Recreation, House of Cards, The Good Wife, Up all Night, Game of Thrones, VEEP, The Big C, Modern Family. Und mein All-Time-Coming-Out-Nostalgie-Favourite Will & Grace, was ich mir ein Mal im Jahr von Anfang bis Ende anschaue.
Gibt es ein Projekt – egal ob ein eigenes oder das von anderen – das du gerne promoten würdest? Hier ist die Gelegenheit!
Das Aufklärungsprojekt „queer@school“ des Jugendnetzwerks Lambda Berlin-Brandburg e.V. (http://queer-at-school.de/). Die gehen in Berliner Schulen und setzen sich für mehr Geschlechtergerechtigkeit und Akzeptanz sexueller Vielfalt und gegen Homophobie und Transphobie an Schulen ein.
Eine letzte Frage: Hast du ein Lebensmotto oder eine Lebensphilosophie?
Keine halben Sachen!
Das Interview führte Melanie Raabe. Don’t be shy! Meet me at http://www.facebook.com/mademoiselleraabe. Ganze Biographien von mir gibt’s auf http://www.geschenkbuch-deluxe.de.
Alle Fotos: privat