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Anne, Köln/Reykjavík
„Nicht jeder Mensch ist gleich begabt fürs Glück, es gehört eine Menge Mut dazu.“
Anne! Was arbeitest du – und wie kam es dazu?
Ich bin als Schriftstellerin tätig.
Gefühlt schon seit ich fünf Jahre alt bin, denn seitdem schreibe ich jeden Tag. Zunächst ins Tagebuch, später auch als Journalistin und als Autorin fürs Radio und Fernsehen.
Mein allererster Ghostwriting-Job waren Reden für eine EU-Politikerin.
Der erste Fernsehjob war beim Kinderfernsehen. Ich schrieb Serien für Nickelodeon, wurde Regie-Assistentin für eine US Kinofilmproduktion.
Lange Zeit war ich hinter den Kulissen tätig, arbeitete als Talentscout für die Missfits-Show im WDR Fernsehen, schrieb Witze für Fernsehunterhaltungsshows, wie „7 Tage – 7 Köpfe“ bei RTL und für Kabarettistinnen für die Bühne.
Alles, was die Verdichtung von Texten betraf, kam auf herrliche Weise zu mir, von der täglichen Radio-Politglosse, über Features und Hörspiele bis hin zum Werbetext.
Ein Drehbuch brachte mich schließlich an die US Westküste.
In San Francisco angekommen, bekam ich plötzlich so viele Anfragen von Sendern aus Deutschland, dass ich vier Jahre lang blieb. Ich glaube, ich habe mich noch nie an einem Ort so zuhause gefühlt, wie in Nordkalifornien.
In Deutschland hieß es immer „Du musst dich für etwas entscheiden“, aber hier konnte ich endlich einfach kreativ sein und fand ein Umfeld, in dem all meine Talente plötzlich gewollt waren, konnte mich wesentlich freier entwickeln und schaffte es mit Leichtigkeit, in der Filmbranche dort Fuß zu fassen.
Parallel dazu arbeitete ich als freie Korrespondentin fürs europäische öffentlich-rechtliche Radio und Fernsehen. Die Frau, die bis dahin standardmäßig alle deutschen und österreichischen Sender versorgt hatte, war gerade nach Neuseeland gezogen, es gab also eine riesige Lücke und fast täglich News aus dem Silicon Valley und der ganzen Bay Area.
Was ich an San Francisco auch so mochte, war der Arbeitsethos meines gesamten Umfeldes– in Deutschland war mir bis dahin immer vorgeworfen worden, ich sei ein „Workaholic“, hier schwamm ich plötzlich im Strom derer, die genauso arbeiteten und die Lebensqualität am Pazifik war gleichzeitig durch das Leben am Pazifik sehr groß.
Dabei erlebte ich einen interessanten Effekt, der eintritt, wenn du 9000 Meilen und 9 Stunden Zeitverschiebung entfernt tätig bist: Du arbeitest wesentlich konzentrierter, wenn während deines normalen Tages die Bürozeiten in Europa längst beendet sind.
So blieb Zeit für größere Projekte. Zwei Bücher, die ich als Ghostwriterin annahm, brachten mich auf die Spur. Eines davon wurde enorm erfolgreich und auch wenn mein Name nicht auf dem Cover stand, bekam ich dadurch ein Gefühl dafür, dass ziemlich viele Leute lesen wollten, was ich verfasst hatte. Das änderte etwas in meiner Selbstwahrnehmung als Schreibende. Es machte mir klar, dass ich mehr zu sagen hatte, als das, was als Film oder Radiostück schneller verpuffte.
Kurz darauf hatte ich ein einschneidendes Erlebnis. Ich wurde mit einem meiner Dokumentarfilme auf ein europäisches Filmfestival eingeladen, das die Richtung meines Lebens vollkommen verändern sollte: Die Aschewolke des isländischen Vulkans Eyjafjallajokull hinderte mich und drei weitere Regisseurinnen daran, zurück in die USA zu fliegen. Während der fünf Tage, die wir miteinander wartend auf den Rückflug verbrachten, erfuhr ich die Geschichte von hunderten deutscher Frauen, die 1949 aus Deutschland nach Island gegangen waren und deren Geschichten bei uns vollkommen unbekannt waren. Das gab den Impuls. Ich war mir dessen bewusst, dass wir alle ihre Geschichten kennen würden, wären sie Männer gewesen, reiste nach Island und stieß auf eine unglaubliche Story, denn diese Frauen hatten alle nie über ihre Motive gesprochen, warum sie Deutschland verlassen hatten. Sie hatten ihre Biografien nicht einmal mit ihren isländischen Familien geteilt. Ich plante eigentlich einen Dokumentarfilm darüber und bekam, bevor ich zu drehen beginnen konnte, das Angebot von einem Verlag, erst mal ein Buch darüber zu schreiben. FRAUEN FISCHE FJORDE wurde ein Bestseller und so seltsam es klingen mag, dieses Buch machte mich zur Schriftstellerin. Den Film dazu drehte ich übrigens nie.
Gerade gab ich das Manuskript zu meinem achten Buch ab.
Was begeistert dich an deiner Arbeit?
Mich begeistert die Vielfalt dieser Tätigkeit, es erfüllt mich, dass ich einerseits lange und tiefgreifende Recherchen machen kann, zum Beispiel weltweit in historischen Archiven grabe und gleichzeitig Menschen befrage, ihre Geschichten erzählen darf, ihre Erfahrungen einfließen lassen kann und dann wieder diese ganz stillen, hoch konzentrierten Phasen des Schreibens habe. Den Fokus zu vertiefen.
Manchmal denke ich, ich bin im richtigen Moment ins Schriftstellerinnenleben geworfen worden, denn ich drehe oft aus einem alten Impuls heraus erst einmal Filmsequenzen mit den ProtagonistInnen meiner Bücher und nehme Töne auf und das passt gut in unsere Zeit, weil es mir leicht fällt, das alles dann in den entsprechenden Kanälen zu teilen, wenn die Bücher erscheinen. Mir macht diese Vielfalt unglaublich viel Freude. Und ich habe schon bei meiner zweiten Lesung etwas entwickelt, von dem ich nie wusste, dass das in mir schlummert. Ich hatte mir nicht klargemacht, dass ich doch viel über Bühnendramaturgie lernte, als ich fürs Unterhaltungsfernsehen und für die Bühne schrieb. Und so kam aus mir schon bei der zweiten Lesung eine Rampensau raus, von der ich selbst nicht die leiseste Ahnung hatte, bevor ich vor ein paar hundert Zuschauern eine Lesung geben sollte. Meine Lesungen habe ich von Anfang an mit Sounds und Filmclips kombiniert und im Laufe der Jahre entstand dadurch eine sehr eigenwillige Form der Literaturstandup. Ich habe in meinen 675 Lesungen noch keine einzige wiederholt, das würde mich selbst langweilen.
Das ist immer ein ganz schönes In-Kontakttreten mit dem Publikum, mit meinen Leserinnen und Lesern, bei dem wahnsinnig viel gelacht wird, selbst bei tragischen Stories und das ist für mich immer ein hoch konzentrierter Abend für mich, der da stattfindet und der von einer großen Woge von Energie getragen ist, auch von einem herrlich gegenseitigen Austausch.
Je größer die Lesung, desto schöner, ich hatte eine ganze Reihe von Lesungen mit über 1000 Gästen. Das liebe ich, denn das hat sich zu einer ganz eigenen Form entwickelt. Bei meiner letzten Lesung in Ostdeutschland gestanden mir allerdings ein paar Besucherinnen, dass sie zwar meine Bücher auch lieben, aber vor allem immer in meine Literatur-Standups kämen, weil sie dann – wie sie sagten „noch Monate lang so eine Energie spüren“! Das hat mich ziemlich erstaunt.
Gerade kehrte ich von einer Lesereise aus Island zurück. Das waren außergewöhnlich tiefe und schöne Momente, die ich mit meinem Publikum dort teilen durfte. An manchen Tagen hatte ich 800 – 1000 Kilometer zwischen zwei Lesungen zu überbrücken. Mit dem Flugzeug und auf der Schotterpiste im Jeep. Irre!
Was machst du, wenn du nicht arbeitest?
Oh, kann man das trennen? Es ist wohl eine Art Berufskrankheit aus dem Journalismus, dass meine Antennen immer ziemlich auf Empfang stehen, aber ja, ich entspanne natürlich auch, mache seit meiner Kindheit viel Sport, meditiere jeden Tag zweimal, was wohl Menschen, die mich bei meinen sehr vitalen Bühnen-Standups erleben, sehr überraschen dürfte.
Aber zu der aktiven Seite kommt tatsächlich eine stille Seite. Aus ihr schöpfe ich viel Energie. Und wenn ich frage „kann man das trennen?“, dann meine ich damit auch, dass ich oft bei meinen langen Laufrunden auf Texte komme, oder wenn ich im Text stocke, laufen gehe, weil ich tatsächlich glaube, dass die Sätze bei mir oft aus der Bewegung stammen. Ich sitze zwar viel, aber beim Texten stehe ich oft auf und gehe umher, brauche Perspektivwechsel.
Meine große Liebe und wohl meine einzig wirkliche Sucht (neben isländischen Lakritz) : Kino! Egal wo ich bin, ich gehe notorisch häufig ins Kino.
Zu meiner städtischen Seite, der, die sich aus der Kultur, etwa in Köln oder Reykjavík (wo ich in diesem Jahr sehr viel Zeit verbringe) speist, kommt meine tiefe Liebe zur Natur.
Mir gibt die Natur Antworten auf Fragen des Lebens. Ich bin auf einem einsamen Bauernhof in der Pampa des Tecklenburger Landes aufgewachsen. Mein erstes Haustier war ein Rehbock. Natur und Tiere sind mir immer wichtig gewesen und ich konnte schon Greifvögel am Flugbild erkennen und kannte alle Bäume, lange bevor ich schreiben konnte. Ich bin ein Birdwatcher und liebe es, dass manche Veranstalter das wissen. Es gibt einen sehr tollen Buchhändler an der polnischen Grenze, der geht mit mir immer Kraniche gucken, bevor ich am Abend dort auf die Lesebühne gehe.
Was mich auch tief erfüllt, sind Reisen und es ist eine große Freude und ein Privileg, dass ich das sehr gut mit meinem Beruf verbinden kann.
Was würdest du als deine Berufung bezeichnen?
Meine Berufung ist es, Menschen zum Leuchten zu bringen und ihre Geschichten vollständig zu erzählen, Fragmente einer Story so zusammenzufügen, dass es eine Erklärung gibt, wir einen Sinn dahinter erkennen, im weitesten Sinne vielleicht sogar eine Erlösung darin finden. Für mich steht am Anfang eines neuen Buches immer die Frage, welchen Effekt es auf unsere Gesellschaft haben wird, was gibt das Buch nicht nur den einzelnen Leser*innen, sondern welche Lücke kann es füllen, die von besonderem gesellschaftlichem Wert ist?
Was treibt dich an?
Vor allem Neugier. Kein Wunder, dass ich beim Radio noch immer begeistert für die wunderbare WDR 5-Sendung NEUGIER GENÜGT arbeite.
Aber auch mein Gerechtigkeitssinn. Vielleicht auch der Wunsch, eine Art Frieden herzustellen. Ich bin vom Studium her Sozialwissenschaftlerin und habe einen Abschluss als Familientherapeutin. Ich legte immer viel Wert darauf, dass ich nie praktiziert hätte, mir diese Ausbildung aber bei meinen journalistischen Interviews helfe und bei meinem ersten Buch musste ich feststellen, dass meine Aufarbeitung der Einwanderungsgeschichte der Frauen in FRAUEN, FISCHE, FJORDE ganz schön viel bei ihren Familien auslöste. Ich hatte keine Ahnung, was für krasse Geschichten von Krieg und Vertreibung sie hatten. Keine von ihnen hatte je ihren isländischen Familien von der Tragik ihres Lebens, das sie vor ihrer Ankunft in Island führten, erzählt. Nun musste ich plötzlich mit Familien zusammen richtig daran arbeiten, dass eine Ordnung hergestellt wurde, allein schon dadurch, dass ich die alten Ladies endlich dazu gebracht hatte, zu sprechen. Das war anstrengend und sehr beeindruckend und plötzlich machte mein altes Handwerk Sinn. Was mich auch antreibt, ist die Erkenntnis, dass das Leben mich an manchen Stellen wohl als Medium einsetzt, als Medium zwischen Menschen und ihren Geschichten. So erlebe ich es und dafür bin ich sehr dankbar, denn so ergibt meine Arbeit einen tiefen Sinn für mich. Ich hoffe, natürlich auch für andere.
Worauf bist du besonders stolz?
Tatsächlich darauf, dass meine Geschichten etwas auslösen. Bei meinem ersten Buch erlebte ich unglaubliche Widerstände. Einerseits waren da diese krassen Stories aus Island. Ich war jedes Mal vollkommen erschöpft, wenn ich von einem der Interviews aus total abgelegenen Orten am Polarkreis zurückkam, so tragisch waren die Biografien der alten Frauen, die längst mit Deutschland gebrochen hatten. Das hatte ich mir bei all meiner Phantasie nicht ausgemalt und dann hatte ich wahnsinnig Stress mit meinem allerersten Verlag, die mich tatsächlich 8 Wochen vor der Buchmesse rausschmissen, weil ich nicht so „spurte“, wie sie das wollten. Die erwarteten ein Null-acht-fünfzehn Buch, wollten das sogar „Isländischer Bauer sucht Frau“ nennen, worauf ich antwortete „Over my dead Body“. Nur über meine Leiche. Ich bin Tochter eines Landwirts und hatte verrückterweise gerade ein Comedy-Hörspiel für den WDR mit Lioba Albus zusammen geschrieben, in dem der Regisseur der gleichnamigen Privat-TV-Serie tot in der Jauchegrube gefunden wurde, eine wahnsinnig lustige „Who’s done it- Geschichte“. Wie hätte ich das zulassen können?
Was mich seltsamerweise rettete, war, das damals alle sagten „Im nächsten Jahr interessiert sich niemand mehr für Island“. Wären nicht alle davon überzeugt gewesen, dass Island nach dem Buchmessenauftritt des Landes keine Rolle mehr spielen würde, ich hätte die Story in die Schublade gelegt und erst – ich schwöre – zwei Jahre später wieder rausgeholt. Heute ist das ein irrwitziger Gedanke, denn damals begann der große Boom mit Island erst und er hört nicht auf.
Im Nachhinein kam raus, dass man mich vom Verlag wohl nur disziplinieren wollte. Der Rauswurf war mit das Beste, was mir als Schriftstellerin passieren konnte, denn als ich endlich weinen wollte, aus Gram darüber und auch aus Erschöpfung, wurde mir plötzlich klar, dass ich das Buch jetzt endlich so schreiben konnte, wie ICH das wollte. Das noch verrücktere: Ich hatte einen lausigen Vertrag und hätte daran nicht mal ein Zehntel dessen verdient, was mein Buch schließlich für mich abwarf.
Mein österreichischer Verleger und ich wurden glücklich darüber. Es hat dan als Paperback noch mal ein verrücktes und schönes neues Leben bekommen, als es unterm Piper-Dach bei Malik landete, in der National Geographic Reihe und damit bei Buchmenschen, die mich als Schriftstellerin enorm fördern.
Aber ja, ich habe unglaublich für und um dieses erste Buch kämpfen müssen, in den ersten Jahren bin ich kurz an einen Verlag geraten, der sich als kriminell herausstellte und der die Autorinnen (das hatten sich tatsächlich nur Frauen gefallen lassen – was sagt uns das?) bewusst betrog. Ich war die Einzige, die dagegen klagte und nach Jahren und einige Gerichtsinstanzen später bekam ich Recht. Wir konnten denen tausende Buchexemplare an Schwarzverkäufen nachweisen. Und da wir gerade darüber sprechen: Zum Stolz gehören die richtigen Freunde:
Hättest Du, Melanie, mir damals nicht in einer entscheidenden Minute den richtigen Satz gesagt, ich hätte vielleicht auch so, wie die anderen betrogenen Autorinnen aufgegeben. Du sagtest mir damals, als ich gerade überlegte, ob ich nicht doch lieber wieder in die USA und zum Film zurückgehen sollte „Wer bei so vielen Rückschlägen immer noch so glücklich schreibt, ist Schriftstellerin!“ Auch das hat mich damals bewegt, nicht aufzugeben. Dafür danke ich dir.
Stolz ist ein Gefühl, das ich nicht allzu oft habe. Als ich in diesem Sommer die Reise von Bundespräsident Steinmeier in Island begleiten durfte, die er anlässlich der „70 Jahre deutsche Einwanderung“ an den Polarkreis machte und da die letzten Überlebenden mit dem Bundespräsidenten und unserer First Lady zusammenkamen, da spürte ich das plötzlich. Die hochbetagte Alma, die ich in FRAUEN, FISCHE, FJORDE portraitiert hatte, sagte diesen Satz „Dass ich das noch erleben darf“ – da dachte ich „All die Kämpfe für mein erstes Buch haben sich gelohnt“. In diesem Moment war ich sehr stolz, denn so verrückt es klingen mag – mein Buch löste eine neue Welle der isländisch-deutschen Freundschaft und letztlich sogar einen Staatsbesuch aus.
Welches war deine bisher interessanteste Reise?
Eine Atlantiküberquerung auf einem Segelboot, einem 22 Meter langen Katamaran. Vollkommen verrückt, ich war mal wieder auf Abenteuer aus und total begeistert und landete schließlich bei 7 Meter hohen Wellen irgendwo auf diesem riesigen Ozean, der mich die Demut lehrte, die ich bis dahin nicht hatte. Ich war vorher noch nie seekrank, aber hier wollte ich an zwei Tagen einfach nur noch sterben. Und doch war es die verrückteste und interessanteste Reise bisher, denn ich meine, dass ich ein bisschen mehr von der Welt verstanden habe da draußen, Auge in Auge mit einer riesigen Pottwalmutter und ihrem Jungen neben uns oder nachts, wenn der Sternenhimmel in der Karibik sich mit seinen Millionen von Lichtern bis zum Horizont über Dich senkt und Du an Deck liegst und heulen möchtest über die Schönheit und Geborgenheit in dieser Welt. Ich war früher mal mit einem leidenschaftlichen Segler zusammen und habe den nie verstanden, aber da habe ich etwas von dieser Welt der Segler begriffen und auch ein bisschen davon in meinen neuen Roman REYKJAVÍK BLUES einfließen lassen.
Was ist das Aufregendste oder Interessanteste, was dir je passiert ist?
Da muss ich nicht lange nachdenken. Das war meine Begegnung mit Gerta Stern. Eine seltsame Fügung brachte unser beider Leben in Verbindung – ich war nach Panama City eingeladen worden und hatte dort eine Lesung in der Deutschen Residenz. Eine alte Dame stand beim Signieren vor meinem Tisch und hielt eines meiner Sachbücher in der Hand, sagte „Weißt du, dass das erst das zweite deutsche Buch ist, das ich lesen werde?“
Vor mir stand Lotte, die beste Freundin von Gerta. Lotte erzählte mir von der Welt der jüdischen Emigranten in Panama. Das überraschte mich vollkommen, denn ich hatte schon 20 Jahre davor für eine amerikanische Filmproduktion zum Exil der 1930er Jahre gearbeitet und mir immer eingebildet, nahezu alles darüber zu wissen. Von Panama war da nie die Rede. Diese Begegnung eröffnete mir eine vollkommen neue Welt und ich bin so glücklich und froh, dass ich diese Welt der alten jüdischen Emigrantinnen noch ein paar Jahre lang ausgiebig kennenlernen durfte, denn das waren die größten Lehrmeister im Leben, die ich je hatte: Vollkommen in ihrer Lebensfreude, tief dankbar für das Leben, das ihnen noch mal geschenkt wurde und so voller Neugier und Unbefangen allem Fremden gegenüber.
Ich lernte Gerta Stern durch Lotte kennen. Die beiden waren beste Freundinnen. Die eine so dröge und norddeutsch, wie eine Hamburgerin in der Ferne nur sein kann und Gerta im Vergleich dazu die jüdisch wienerische Dramaqueen. Als ich Gerta begegnete, wurde es ein wenig spooky, denn sie erwies sich als die Nichte des berühmten Komponisten Siegfried Translateur. Der kam in meinem ersten Roman NORDBRÄUTE vor, der gerade in dem Jahr erschienen war.
Gerta und ich sahen uns ziemlich überrascht an, als das klar wurde. Ich beschloss, ihre außergewöhnliche Geschichte fürs Radio zu erzählen, denn sie war eine Schauspielerin in Wien gewesen, hatte einen der ersten Fußballprofis geheiratet und war mit ihm eigentlich auf dem Weg nach Südafrika gewesen, als die beiden von den Progromen in Hamburg überrascht worden waren und er im Konzentrationslager landete. Mit Hilfe eines unbekannten Helfers war es Gerta damals gelungen, ihren Mann aus dem KZ zu befreien. Der Unbekannte, von dem sie nur den Vornamen wussten, hatte ihnen sogar die Schiffspassage nach Panama geschenkt, denn das war das einzige Land, in das sie sich mit seiner Hilfe als Juden noch retten konnten.
Als ich das Interview über dieses verrückte und später so erfolgreiche Leben in Panama schon beendet hatte, warf ich aus einem Impuls heraus mein Aufnahmegerät noch mal an und stellte Gerta eine letzte Frage. Sie sah selbst viel jünger aus, als sie war, war damals aber schon 99 Jahre alt und betrieb noch immer ihren gut gehenden Kosmetiksalon. Wir saßen bei fast 40° Grad und 97% Luftfeuchtigkeit in den Tropen. Ein paar Monate später wollte sie ihren hundertsten Geburtstag in Österreich, in ihrer alten Heimat feiern.
Und nun schoss sie wie aus einer Pistole in mein digitales Aufnahmegerät: „Wir haben nie erfahren, wer dieser Herr Otto war, dem wir unser Leben verdanken“
Gerta meinte, dass es doch eine Schande sei, dass dieser Mann, der alles für sie riskiert hatte, ihnen nie seinen vollen Namen genannt habe und sie sich nie bedanken konnten. Sie hatte gleich nach dem Krieg in Mittelamerika damit begonnen, ihn zu suchen, aber irgendwann aufgegeben und vermutete nun, er müsse wohl im Krieg umgekommen sein.
In diesem Moment in Panama wusste ich, dass ich ihn finden kann. Gerta verriet ich nichts davon, denn ich hatte beschlossen, dass das mein Geschenk zu ihrem 100. Geburtstag würde. Das konnte doch nicht sein, dass sie 100 würde und nicht wusste, wem sie ihre Rettung zu verdanken hatte.
Es war verrückt, denn ich fand diesen Otto Dettmers ziemlich schnell. Ich kannte sogar seine Villa, war als Studentin in Bremen jeden Tag an seinem Haus zur Uni vorbeigeradelt. Er war inzwischen längst gestorben, aber ich wusste nun, wer Gerta und ihre Familie gerettet hatte. Dann lud mich das 5-Sterne-Hotel zu Gertas Geburtstagsfeier ein. Allein die Feier zu Gertas Hundertstem war der Hammer: 60 Leute aus 15 Ländern. Die alte Dame feierte mit uns anderen eine ganze Woche lang in ihrem schicken Stammhotel in Bad Hofgastein und hatte nicht die leiseste Ahnung, was ich ihr schenken würde.
Sie war sprachlos, als ich meine Rede dort hielt und ihre lebenslange Frage auflösen konnte.
Am dritten Tag in Bad Hofgastein wusste ich: Das ist das zweite Mal in meinem Leben, das mir eine historische Geschichte mit Happy End geschenkt wird, die noch nicht erzählt wurde und ich wusste auch, ich würde es mir wahrscheinlich bis ans Lebensende vorwerfen, dieses Buch nicht gemacht zu haben.
Das Memoir, das ich schrieb, „Señora Gerta“ landete in der Spiegel Bestsellerliste, aber was mich mit noch mehr Freude erfüllte, war der Brief, den ich von Ulrike, einer der Enkelinnen von Gertas Retter erhielt „Ihr Buch klärt alle Fragen, die ich mir mein Leben lang schon stelle!“ Wir fanden inzwischen drei weitere jüdische Familien, die Otto Dettmers auch gerettet hat.
Im Jahr darauf flogen wir gemeinsam mit Ulrikes Tochter nach Panama. Das Buch hatte also viele positive Folgen. Unter anderem auch, dass Gerta noch mit 101 einen Heiratsantrag erhielt und sie sogar noch einen Werbevertrag im panamaischen Fernsehen bekam. Sie starb glücklich und erfüllt mit fast 104!
Was ist die wichtigste Lektion, die du bisher gelernt hast?
Mir treu zu bleiben, auf mein Bauchgefühl zu hören, meinen Instinkten zu trauen. Ein Beispiel ist der Verlag aus München, der mich betrogen hat. Die dortige Verlegerin rief mich an, weil die unbedingt meine Bücher in ihrer Firmengründung mit im Portefeuille haben wollten und als ich nach dem ersten Gespräch auflegte, dachte ich „die klingt wie eine verzickte Dreizehnjährige, die nicht das kriegt, was Papi ihr versprochen hat“ – im Nachhinein muss ich sagen: Stimmte komplett.
Und wenn ich Verlegerin sage, muss ich das hier relativieren, denn das war das erste Verfahren in der deutschen Verlagsgeschichte, dass jemand behauptete „Verleger“ zu sein, ohne dafür die nötigen Voraussetzungen zu erfüllen. Die ganze Firma war offensichtlich nur gegründet worden, um ein Abschreibungsprojekt zu kreieren.
Verbunden damit übrigens war die Lektion, sich mit den Besten zu verbinden. Ohne meinen Anwalt, der auf Verlagsrecht spezialisiert war, hätte ich das nicht geschafft. Und den Agenten des Literaturbetriebes zu vertrauen. Eine Agentur im Rücken zu haben, hat mein Leben als Schriftstellerin sehr viel leichter gemacht.
Zum vermeintlichen Bauchgefühl, das so platt klingen mag: Ich machte dieses Buch über weibliche Tibetische Gelehrte. Beim Schreiben stieß ich auf ein im Buddhismus wichtiges Organ: nämlich das, was wir Bauch nennen und das schon im Buddhismus als das wichtigste Organ angesehen wird. In der Meditation schließen wir uns daran an: Da liegen 200 Millionen Nervenzellen, die haben uns wirklich was zu sagen!
Hast du Vorbilder? Welche?
Ja, einige sogar. Bestimmt ist Gerta für mich zum Vorbild geworden. Nachdem mein Memoir über sie fertig war, begann eine tiefe Freundschaft. Ich empfand es als großes Glück, von einem Menschen in meinem Leben begleitet zu sein, der so viel Lebenserfahrung hat. Ich reiste noch regelmäßig nach Panama und Gerta und ihre Freundinnen nahmen mich auf in ihren Kreis vollkommen ungebrochener, starker Persönlichkeiten. Gerta wurde in ihrer tiefen Fröhlichkeit und ihrem Ungebrochensein, ihrem vollkommenen Mut, es mit den Nazis aufzunehmen und sein eigenes Glück zu retten, zu einem Vorbild für mich.
Früher hätte ich bestimmt als erstes gesagt: Tania Blixen und zu den wenigen Dingen, die ich mir nur schwer verzeihen kann (höchsten 2 oder 3) , gehört, dass ich nicht das Original Tintenfässchen von ihr kaufte, dass mir mal für 60 $ zum Kauf angeboten wurde. Aber diese Haltung ist natürlich tief romantisch und hat auch was mit dem Blick auf das „alte“ Schriftstellerleben zu tun. Let’s face it: Wir arbeiten und leben in einem Business, in dem es um ernsthafte Dinge und ein komplexes Handwerk geht. Auf eine Weise ist mein indischer Meditationslehrer ein Vorbild für mich, denn er schafft es immer wieder, mich mit seinem Wissen zu überraschen und zu fördern.
Wer in diesem Leben (nach all den großen Vorbildern meiner Jugend von Hermann Hesse bis Doktor Schweizer) mein Vorbild wurde, ist eine Künstlerin, die ich in San Francisco kennenlernen durfte: Topher Delaney ist die bedeutendste Landart-Künstlerin der USA. Sie hat unter anderem Liebesgedichte in Braille-Schrift aus Felsen in einem Park in Nordkalifornien gebaut, die man nur aus der Luft lesen kann. Sie ist jemand, die meinen Blick auf die Welt sehr veränderte. Topher wurde schon als Teenager Assistentin von Jackson Pollock und war die Erste, die „heilende Gärten“ machte, indem sie die Lehre Hildegard von Bingens in die moderne Landart übernahm.
Topher ist jemand, die ich in ihrer Fähigkeit für große Visionen und für ihre positive Form der Kompromisslosigkeit bewundere.
Sie war auch diejenige, die mich zur Seite nahm und ernst ansah und sagte „Du weißt aber schon, dass du eigentlich eine Künstlerin bist, oder? Du kannst dem nicht entkommen und musst dich dem endlich stellen!“
Das hat mir geholfen, mich zu trauen, das auszudrücken, was ich heute mache.
Was inspiriert dich?
Menschen, Menschen und nochmals Menschen. Nichts finde ich spannender und schöner und inspirierender als Menschen in ihrer Vielfalt. Mir fallen dabei sofort russische Einwandererkinder in der israelischen Negevwüste ein, bei denen ich mal am Schulunterricht teilnehmen durfte. Selten sind mir glücklichere Menschen begegnet. Für meinen ersten Dokumentarfilm drehte ich in einem Indianerreservat in Süddakota. Die Lakota Sioux, die ich da treffen durfte, fand ich hoch interessant, ich verbrachte viel Zeit mit der Schamanin des Stammes, wir hatten unglaubliche Diskussionen über ein gelingendes Leben, das ist jetzt 20 Jahre her, hat mich aber als tiefe Inspiration bis heute nicht losgelassen.
Was macht dich glücklich?
Ein Mensch, der mich sehr liebte, sagte mal den schönen Satz „Du siehst die Schönheit Gottes in jeder Wolke!“ – und ja, that’s it! Ich halte mich für sehr „glücksbegabt“. Ich arbeite in einem alten Turm und ich schaue dabei durch fünf konvex in den Himmel gerichtete Fenster, schaue in die Wolken und blicke über Baumkronen hinweg und kann gar nicht aufzählen, wie viele Glücksmomente ich so am Tag habe: Die schönste Wolke, lachende Kinder in der Schulpause im Park.
Manchmal sind es auch Sätze, die schön sind und die mir jemand ins Ohr flüstert oder schreibt, oder die ich im Vorbeigehen höre.
Den Sommer habe ich in diesem Jahr in Island verbracht. Irgendwann hörte ich auf, dort die Glücksmomente zu zählen, denn in Island bin ich mitten in der Natur und in dieser schönen Gemeinschaft dort oft sehr glücklich. Zu den wundervollsten Momenten meines Lebens gehört der, als ich mich bei der Rückkehr der Singschwäne im Frühjahr in Island mal spontan auf ein freies Feld legte und mich mit meinem Daunenmantel zudeckte, der zum Glück die Farbe des Feldes hatte. Hunderte von Singschwänen landeten um mich herum und ich lag heulend vor Glück unterm Daunenmantel und spürte die Kraft ihrer großen Flügel um mich herum, hörte ihre Gesänge, weil sie gerade alle nach Südisland zurückkehrten. Aber nichts, wirklich nichts toppt ziehende Kraniche.
Und Menschen, Gemeinschaft, gemeinsames Lachen macht mich sehr glücklich. Oft übrigens auch mein Bruder, wenn wir uns Geheimcodes aus der Kindheit zuwerfen, verbale Codes, dann könnte ich ausflippen vor Glück. Verrückt, wie nachhaltig und wie tief so etwas wirkt. Das ist dann auch Verbundenheit und Glück durch Sprache. Ich wuchs mit norddeutschem Plattdeutsch auf. Speziell diese Sprache lässt mich manchmal ganze Glückswellen erleben.
Was macht dich wütend?
Früher hat mich vieles wütend gemacht, aber seit ich meditiere, nicht mehr viel. Die Wut führt oft dazu, nicht klar zu bleiben. Ich bin heute sehr viel besonnener, als früher. In der Regel ist es Politik, die mich wütend machen kann. Das ist wohl genetisch bedingt, denn in meinem Elternhaus pflegten wir heftige Debatten, meine Eltern waren beide politisch engagiert und das ist wie ein Muskel, den ich schon als Kind ausbilden musste, weil das einen großen Stellenwert in meiner Herkunftsfamilie hatte.
Wenn jemand, der dir nahe steht, unglücklich ist: Wie munterst du sie oder ihn wieder auf?
Total bekloppt, aber das weckt in mir komplette Mutterinstinkte, denn ich bin geradezu besessen davon, dass dieser Mensch sofort etwas Gutes essen muss. Ich bekoche dann wie eine Glucke und gebe nicht auf, bis der- oder diejenige wieder lachen kann.
Hast du ein Lebensmotto?
Werde, die/ der Du bist.
Ein Lieblingszitat?
Das wechselt immer mal. Deshalb habe ich gerade in mein Tagebuch geblickt und fand ein schönes Zitat meiner großen Lehrmeisterin Gerta Stern AKA „Senora Gerta“, das ich hier teilen möchte: „Nicht jeder Mensch ist gleich begabt fürs Glück, es gehört eine Menge Mut dazu.
Was ist der Sinn des Lebens?
Die Erde ein bisschen besser zu machen durch die eigene Anwesenheit, eine positive Spur auf ihr zu hinterlassen!
Welche Frage habe ich vergessen, obwohl du eine spannende Antwort darauf gehabt hättest?
Wow! Ja, diese hier: „Was macht dieser Fragebogen mit dir?“
Er bringt mich auf erstaunliche Antworten, denn du hast beeindruckende Fragen (o.k., bis auf die nach meinem Alter).
Mehr über Anne Siegel:
www.AnneSiegel.de
Insta – theAnneSiegel (https://www.instagram.com/theannesiegel/)
FB – Anne Siegel / Autorin & Frauen Fische Fjorde (https://www.facebook.com/AnneSiegelAutorin/ & https://www.facebook.com/FrauenFischeFjorde/)
Annes aktuellsten Roman REYKJAVÍK BLUES gibt es überall dort, wo es Bücher gibt.
Das Interview führte Melanie Raabe.
Foto: Jacobia Dahm