Getagged: Kunst
Christian, 33, Köln
„Beautiful things are temporary. Life is temporary. Make the most of it.“
Christian! Du bist mein unangefochtener Lieblingsfotograf. Wie bist du zum Fotografieren gekommen?
Warum bin ich denn dein Lieblingsfotograf?!?
Weil bei dir jeder aussieht wie’n verdammt cooler Rockstar. Auch normale Leute. Selbst die Natur, Landschaft, Tiere… alles sieht bei dir rock’n’rollig und irgendwie musikalisch aus. Deswegen. Aber genug des Lobes. Wann hast du gemerkt, dass du das beruflich machen willst?
Als ich mich das erste Mal gefragt habe, was ich beruflich machen will, ist mir einfach nichts Besseres eingefallen. Ich habe meine erste Kamera, eine Nikon RF-10 aus Plastik, mit 15 Jahren bekommen. Seitdem fotografiere ich. Ich glaube, jeder Mensch braucht einen Weg um sich auszudrücken, um seine Gefühle – manchmal auch ein wenig verschroben – nach außen zu tragen. Andere schreiben, fluchen, malen, ich fotografiere halt.
Gibt es Kunstformen neben der Fotografie, die dich begeistern?
Ich sterbe für gute Musik. Musik ist die höchste Kunstform auf Erden.
Wer ist dein Lieblingsfotograf?
Glen E. Friedman.
Was ist das Coolste, was dir als Fotograf jemals passiert ist?
Mein Anwalt hat mir verboten, darüber zu sprechen.
Du bist auf dem Land aufgewachsen. Wie war das so?
Nicht so toll. Ich habe mich da immer als einziger normaler Mensch unter einem Haufen Sonderlingen gefühlt. Man könnte auch sagen: Ich habe mich als Sonderling gefühlt – umgekehrt klingt es in meinen Ohren aber besser. Zu den paar Menschen, in deren Schusslinie man nicht geraten ist, weil es ihnen ähnlich ging, sind aber auch große Freundschaften entstanden, die ein Leben lang halten.
Momentan lebst du in Köln, wenn ich mich nicht ganz irre. Was magst du an Köln? Was hasst du an Köln?
Ich mag das „King Georg“. Ich mag die Skateparks und die vielen Kinos. Ich hasse die „Ringe“ an den Wochenenden und natürlich den Karneval.
Welches sind deine Lieblingsorte in Köln?
Das „King Georg“, meine Wohnung, das „Rex“, das „Signor Verde“ und der Lentpark. Die Reihenfolge variiert je nach Gefühlslage.
Du bist viel auf Konzerten unterwegs – als Fotograf, privat, als Veranstalter. Welches ist das beste Konzert, das du je gesehen hast?
Wizo live auf dem Bizarre-Festival 1996.
Welches sind momentan deine Lieblingsbands?
Bei mir läuft gerade Robert Foster, Chastity Belt, Jaakko Eino Kalevi, Jungle, Quilt, Courtney Barnett und Ballet School in Dauerschleife.
Du bist seit vielen Jahren Veganer. Wie kam’s?
Oh, es gibt so wahnsinnig viele gute Gründe um sich vegan zu ernähren, aber nicht einen einzigen guten Grund sich nicht vegan zu ernähren. Einer davon: Würden alle Menschen vegan leben, gäbe es mehr als genug Lebensmittel für die gesamte Weltbevölkerung. 1984 gab es zum Beispiel eine Hungersnot in Äthiopien; nicht, weil die äthiopische Landwirtschaft keine Lebensmittel produzierte – ganz im Gegenteil: Während der Krise, die zehntausende Menschen das Leben kostete, importierten europäische Staaten aus dem verarmten Land Getreide, um damit Hühner, Schweine und Kühe in Europa zu füttern. Wäre das Getreide dazu verwendet worden, die äthiopische Bevölkerung zu ernähren, die es angebaut hat, hätte die Hungersnot gelindert, wenn nicht gar abgewendet werden können. Es gibt sicher Menschen, denen das egal ist oder die das für zu theoretisch halten, aber vielleicht wäre für sie ja die eigene Gesundheit ein Argument. Dr. T. Colin Campbell, Leiter der bekannten „China Study“ an der Cornell University – eine Langzeitstudie, die den Zusammenhang zwischen Ernährung und Gesundheit untersucht – ist z.B. zu dem Ergebnis gekommen, dass 80 bis 90 Prozent aller Krebserkrankungen und Herzkreislauferkrankungen verhindert werden könnten, indem man tierische Produkte aus seinem Speiseplan streicht. Argumente à la „Der Mensch hat schon immer Fleisch gegessen”, sind in meinen Ohren absoluter Dünnpiff. Der Mensch ist auch immer davon ausgegangen, dass die Erde eine Scheibe ist, bis ihm jemand gezeigt hat, dass die Erde rund ist. So was nennt sich Fortschritt und auf diesen sollte man sich ruhig einlassen. Und überhaupt: It’s never just an animal!
Was hat sich, seit du angefangen hast, vegan zu leben, geändert? Hat man’s heute leichter?
Erstmal sollte man wissen, dass es überhaupt nicht schwer ist, vegan zu leben. Heute hat man natürlich eine größere Auswahl an Lebensmitteln bzw. Fertigprodukten, Kochbüchern und Restaurants. Durch die größere öffentliche Wahrnehmung ist aber auch das Problem hinzu gekommen, dass man ernst genommen wird. Dadurch fühlen sich Fleischesser oft angegriffen und bedroht. Ich sage bewusst „Problem“, in Bezug auf deine Frage, da es natürlich in Wirklichkeit ein glücklicher Umstand ist, ernst genommen zu werden. Ich habe das Gefühl, dass unsere Generation hinsichtlich des Veganismus und Vegetarismus echt etwas reißen kann und natürlich aus Verantwortungsbewusstsein gegenüber kommenden Generationen in der Pflicht ist – da unsere Eltern und Großeltern, diesbezüglich echt nur Scheiße gebaut haben. Meine liebe Mutter soll sich hier bitte nicht persönlich angesprochen fühlen, da sie mittlerweile auch fast vegan lebt.
Verrätst du mir das Geheimnis deiner veganen Crispy Rolls?
Natürlich nicht!
Verdammt! Na gut, ganz anderes Thema. Hast du Vorbilder?
Es gibt auf jeden Fall Menschen, bei denen ich immer denke, dass es nicht schlecht wäre, wenn ich ein bisschen mehr wie sie wäre. Meist sind das allerdings fiktionale Charaktere aus Filmen. Wie John Connor in „Terminator 2 – Tag der Abrechnung“, Data von den „Goonies“ und natürlich Marty Mcfly. Einen besonders tollen Charakter hatte auch Matt Dillon in „L.A Crash“ als Officer Ryan. Was ich an seiner Figur so beeindruckend fand, ist die Tatsache, dass er, wenn es drauf ankommt, ein Held ist. Officer Ryans Rolle erinnert mich immer an den Song „Please Please Please“ von The Smiths: „See, the life I’ve had. Can make a good man bad.“ Was die Herzlichkeit angeht, ist mein Großvater immer mein Vorbild gewesen. Wenn ich mal nur die Hälfte von dem abrufen kann, was mein Großvater an Großvater-Skills drauf hatte, dann werden meine Enkel einen ziemlich tollen Opa haben.
Hast du ein Lebensmotto?
Beautiful things are temporary. Life is temporary. Make the most of it.
Was macht dich glücklich?
Karma.
Das Interview führte Melanie Raabe.
Alle Fotos: Christian Faustus Photography.
Mehr Christian gibt’s auf http://www.christian-faustus.de/ , http://christian-faustus.tumblr.com/ und auf http://www.letsgethey.de/
Max, 34, Köln
„Ich vertraue in die ordnende, rhythmische Kraft des Lebens. Tatsächlich suche ich nur wenig. Meistens finde ich.“
Max! Du machst so viele unterschiedliche und spannende Dinge, dass diese Frage hier wahrscheinlich siebenzeilig ausfiele, wenn ich sie alle aufzählen würde. Wenn dich ein Fremder fragt, „was du beruflich machst“ – was antwortest du?
Früher habe ich versucht, aufzuzählen, was ich alles mache, aber da hab ich oft selbst was vergessen. Und die Fragesteller runzelten sowieso schon skeptisch die Stirn. Es hat sich so ein bisschen runtergedampft auf „Tänzer und Schriftsteller, der auch Möbel baut“. Da fehlt noch manches, aber es geht eben nicht in Kürze.
Wo kommst du her und wie bist du aufgewachsen?
Ich wurde in Bonn geboren und wuchs in einem Dorf bei Kevelaer am Niederrhein auf, kaum zehn Kilometer von der niederländischen Grenze entfernt. Joseph Beuys stammte aus der gleichen Gegend. Meine Freunde und ich, wir waren stark geprägt von seinem Kunstverständnis, dass gewissermaßen von der Landschaft widergespiegelt wird. Als zweites von fünf Geschwistern habe ich mich früh sowohl nach oben, an meinem Bruder, als auch nach unten, an meinen drei Schwestern orientiert. Meine Eltern haben mir von Anfang an viel Freiheit gelassen. Schon im ersten Schuljahr fuhr ich mit dem Rad allein über Landstraßen ohne Radwege zu Freunden, die außerhalb des Dorfes wohnten.
Wie warst du als Kind?
Klein. Bis ich vierzehn war, wog ich fünf Kilo weniger, als der Nächstkleine in meiner Klasse. Das heißt: Ich war ziemlich frech, ruhelos und vorlaut.
Und als Teenager?
Das müssten meine Freunde beantworten. Wir hatten das Glück, ein enger, sich gegenseitig Halt gebender Kreis zu sein. Das klingt vielleicht romantisiert, aber wir haben viel im Wald gesessen, Wein getrunken, geraucht und philosophiert. Außerdem war ich ständig unglücklich verliebt.
Du bist ausgebildeter Tänzer. Hast du schon immer getanzt? Oder wie kam es sonst dazu, dass du dieses Studienfach gewählt hast?
Als Junge, bzw. Mann in einer Kleinstadt Ballett zu tanzen ist schwierig. Man ist nur noch „der, der Ballett tanzt“. Das kam nicht in Frage – ich habe noch nicht einmal richtig daran gedacht. Mit 18 habe ich mir zum ersten Mal ernsthaft gewünscht, dass ich gerne Ballettstunden nehmen würde. Erst mit 22 fiel es mir buchstäblich vor die Füße: Ich wohnte in Berlin, mein Praktikum als Fotograf ging zuende und ich wusste nicht so recht, was kommen sollte. Da landeten zwei Tänzerinnen aus Dänemark, die wegen eines Vortanzens einen Schlafplatz brauchten, in meiner Wohnung. Kurz darauf stand ich in engen Hosen in einem Studio in Kopenhagen. Meine erste Ballettstunde war gleichzeitig Aufnahmeprüfung für eine einjährige Grundausbildung. Die brauchten noch einen Mann, also haben sie mich genommen.
Was hast du aus dem Studium mitgenommen?
Mmh… darüber habe ich jetzt länger nachgedacht. Ähnlich wie viele meiner Mitstudenten habe ich ein zwiegespaltenes Verhältnis zur Ausbildung. Vielleicht ist das bei einem künstlerischem Studienfach nicht anders möglich. Besonders diejenigen, die nicht mit einem ganz deutlichen Ziel vor Augen studieren (dazu gehörte ich), werden radikal mit sich selbst konfrontiert. Man wurschtelt sich da so alleine durch seine seelischen Untiefen und kommt im glücklichen Fall am Ende gestärkt und klarer heraus. Ich zähle mich zu den glücklichen Fällen.
Welche Rolle spielt Kunst in deinem Leben?
Da ich mich immer wieder neu frage, was Kunst eigentlich sein soll, ist das nur mit Plattitüden zu beantworten. Wache Kreativität in allen Lebenslagen ist jedenfalls ein großer Spaß.
Drückst du in deinen unterschiedlichen Kunstformen verschiedene Dinge aus? Oder sind Tanz, Schreiben, Malerei etc. für dich nur unterschiedliche Kanäle?
Mmh. Jetzt muss ich kurz intellektuell werden: Kunstschaffen ist ein Weg, die Wirklichkeit zu transzendieren. Ich suche eine innere Haltung, um der Wirklichkeit voll und ganz begegnen zu können. Diese innere Haltung ist am Ende des Tages die gleiche – durch die verschiedenen Kunstformen nähere ich mich ihr – quasi hermeneutisch – aus verschiedenen Richtungen und behaupte, dadurch tiefer zu dringen. Auch wenn der Weg länger dauert.
Gibt es eine Kunstform, in der du dich mehr daheim fühlst als in anderen?
Am Ende des Tages das Schreiben. Würde ich nochmal leben, würde ich allerdings Musiker werden.
Welche Künstler bewunderst du?
Hunderte!
Welches sind deine Lieblingsbücher?
Ein kleines Werk sticht heraus: „Everything in this country must“ von Colum McCann. „On the Road“ von Jack Kerouac. „Beatles (auf deutsch: „Yesterday“) von Lars Saabye Christensen. „Fiesta“ von Hemingway. „The Crossing“ von Cormac McCarthy. Da ich fast keine Bücher besitze, weil ich „leicht reise“, kann ich nicht ins Bücherregal schauen, um mich zu erinnern. Es sind wirklich zu viele.
Gerade ist ein Buch von dir erschienen: „Richtung Kiribati – auf zu neuen Abenteuern“. Was steht drin?
Das müsste ich dich fragen! Im Nachhinein sind die zentralen Themen das Reisen und die Freundschaft.
Was hat es mit dem Titel auf sich?
„Richtung Kiribati“ war eins von den Gedichten, die einfach rausplöppen, die sich quasi von selbst schreiben und an denen nicht, wie an manch anderen, noch jahrelang weitergearbeitet wird. Das passiert, wenn überhaupt, nur einmal pro Jahr.
Der Untertitel steht, was man kaum sehen kann, auf dem T-Shirt des Jungen auf dem Coverfoto. Das passte sofort zusammen.
Über welchen Zeitraum ist es entstanden?
Die ältesten Texte sind zirka zwölf Jahre alt. Die meisten stammen aus den letzten drei Jahren.
Auf welchen Text bist du besonders stolz und warum?
Am stärksten sind für mich „Generation Kind“, „Gib mir den Hammer“ und „Flussaufwärts“. Letzterer ist ein Text, bei dem der Leser erst nach dem zweiten oder dritten Lesen merkt, was drinstreckt.
Woran arbeitest du derzeit?
An einer Geschichte über ein Buch, das Beine bekam. Es gehört einem kleinen Jungen, der nicht liest. Eines Nachts wacht das Buch auf und merkt, dass ihm Beine gewachsen sind. Es macht sich auf den Weg und trifft andere Bücher. Müde, alte Bestseller, nerdige Fachbücher, üble Klolektüre. Auf seinem Weg erkennt das Buch, dass es zu dem Jungen gehört.
Du kommst aus einer kinderreichen Familie. Was bedeutet Familie für dich?
Ohne meine Familie könnte ich nicht so leben, wie ich lebe. Ich bin besonders meinen Eltern immens dankbar dafür, dass sie mir möglich gemacht haben, meinen Weg so frei zu suchen, wie ich es tun konnte.
Bist du gläubig? Welche Rolle spielt für dich Religion?
Ja, ich bin gläubig. Dabei ist Religion als Gruppenphänomen immer schwierig. Ich gehöre aber nicht zu denen, die pauschal über die Kirche schimpfen.
Du reist gerne. Welches war dein schönstes oder interessantestes Erlebnis auf Reisen?
Es gab viele. Um diese mit der vorangegangenen Frage zu verknüpfen: 2011 wanderte ich zusammen mit Oliver Möller ein Stück des GR10 in den Pyrenäen. Nach einem langen Aufstieg durch faszinierend schöne Landschaft machten wir Rast am Pass ins nächste Tal. Ich kochte Kaffee, probierte einen Schluck und musste vor Freude ausrufen: „Ah! Es gibt einen Gott!“
Welches ist die wichtigste Lektion, die du bisher gelernt hast im Leben?
Abgeben, loslassen, mitgehen (und die Lektion wieder über Bord schmeißen).
Hast du ein Lebensmotto oder eine Lebensphilosophie?
Meine Freunde könnten mir vielleicht etwas zuordnen. Ich vertraue in die ordnende, rhythmische Kraft des Lebens. Tatsächlich suche ich nur wenig. Meistens finde ich.
Hast du Vorbilder?
Rigmor Skålholt, meine ehemalige Chefin in dem Heim für Menschen mit Behinderungen, in dem ich in Norwegen zur Zeit meines Zivildienstes gearbeitet habe. Ihre Art des Umgangs mit Menschen und ihre Art der Führung sind für mich einzigartig.
Was inspiriert dich?
Kunst. Absurdes. Muße.
Was macht dich glücklich?
Teamarbeit, Humor und eine gute Tasse Kaffee.
Das Interview führte Melanie Raabe.
Alle Fotos: Felix Keuck.
Das im Interview erwähnte Buch „Richtung Kiribati – auf zu neuen Abenteuern“ von Max Pothmann ist bei Edition Winterwork erschienen. Zu Max‘ Homepage geht es hier: http://www.maxpothmann.de
Nilgün, 24, Berlin
„Mich faszinieren Dinge,
die ‚out of the box‘ gedacht sind.“
Nilgün! Du hast kürzlich geheiratet. Herzlichen Glückwunsch!! Und im Anschluss gleich eine vielleicht völlig dämliche Frage, aber: Warum?
Vielen Dank! Als ich meinen Mann bei „World of Warcraft“ kennengelernt habe, dachte ich auch noch nicht, dass wir mal heiraten würden. Die Füllung für die Worthülse „Ehe“ kommt für mich aus der islamischen Lehre. Im Islam ist die Ehe kein Sakrament, das sich erst durch den Tod eines Ehepartners aufhebt, sondern die Verbundenheit zweier Menschen vor Allah, der so nebenbei gesagt der gleiche Gott Abrahams, Moses‘ und Jesu‘ ist. Es ist zwar die unliebsamste himmlische Erlaubnis, aber es gibt sie, die Erlaubnis zur Scheidung. Trotzdem muss ich sagen, tut es ziemlich gut in Zeiten des „schneller, besser, sexier“ und des Beziehungskonsums, sich auf eine Person voll einlassen zu können und von der Qualität der Beziehung zu leben. Uns wird täglich von der Werbung suggeriert, hey es geht noch was, du besitzt noch nicht alles um glücklich zu sein, und das hat sich stark auf die Partnerschaften unserer Kultur ausgewirkt. Verbindlichkeit geht auch ohne Ja-Wort. Aber mit der islamischen Ehe haben wir hoffentlich Gottes Segen eingeholt und zusätzlich eine fette Party geschmissen. Außerdem ist die Ehe so out, dass sie schon fast wieder in ist. Auf unserer Hochzeit war Stefans Großvater der Einzige, der den bräutigamschen Zylinder altmodisch fand, die anderen haben begeistert nach dem neuen „It-Item“ gefischt.
Du bist vor einigen Monaten von Köln nach Berlin gezogen. Klare Sache: Pech für Köln! Wie gefällt es dir in der Hauptstadt?
Hier fluktuiert alles, und man trifft so viele unglaubliche und talentierte Menschen. Berlin ist ein interessantes Phänomen, die Stadt bietet nicht unbedingt die besten Studien- oder Arbeitsplätze im Land, aber die Menschen die es hierher verschlägt, kommen wegen ihrer Interessen und ihrem Lebenshunger. In anderen Großstädten wie London oder Paris bestimmt den Zuzug viel mehr die Arbeitssuche. Unfreiwilligerweise hat sich die Natur um Berlin herum gut erhalten, und ich kann es nicht fassen in Brandenburg noch auf Hirsche, Füchse und eine halbwegs intakte Flora zu treffen. Wenn irgendwo ein Bach plätschert, spricht es wohl meine innere Nymphe an.
Du bist eine Frau mit vielen Talenten und Interessen. Vor allem aber machst du großartige Fotos. Was inspiriert dich?
Mich haben früher Romane inspiriert, in denen es starke Frauenbilder und interessante, abweichende Männerrollen gibt. Lesen ist immer noch ein wichtiger Quell von Inspiration für mich, auch asiatische Filme, das Leben meiner Mitmenschen und vor allem die Natur und Mythologien, in denen sie gepriesen wird. Natürlich muss es zu all dem einen guten Soundtrack geben. Meine Fotos geben eine Sehnsucht nach der Natur wieder, wie ich es auch bei vielen anderen zeitgenössischen Künstlern nachempfinden kann. Ich finde es irgendwie ironisch, weil sich dieses Phänomen alle paar Jahrzehnte oder -hunderte wiederholt, aber ich kann mich dem trotzdem nicht entziehen. Meine erste Ausstellung war meiner in jungen Jahren entdeckten „Floral Fixation“ gewidmet.
Welche Fotografen bewunderst du?
Das Zeitalter der Social Networks hat die Hierarchien abgeflacht und man erfährt viel mehr von jungen Künstlern. Es gibt so viele Fotografen, die wunderbare Arbeiten haben, und ich finde es manchmal faszinierend, wie Qualität und Popularität nicht Hand in Hand zu gehen scheinen. Um einige zu nennen, die vielleicht weniger bekannt sind: Jingna Zhang kommt aus Singapur und ist eine großartige und vielseitige Fotokünstlerin. Interessant finde ich auch, dass sie ebenso wie ich ein Gamer ist und in ähnlichen Dingen Inspiration findet. Kiki Xue ist ein chinesischer Fotograf, Elizaveta Porodina eine russische Fotografin, und Chen Man stammt ebenfalls aus good old Beijing. Außerdem tummeln sich in Krakau besonders viele junge, begabte Analogfotografen. Ich hab demnächst mal vor, dahin zu fahren und mir das Nest anzuschauen.
Hast du noch andere künstlerische Vorbilder?
Botticelli, Dante Gabriel Rossetti, Gustav Klimt, alles Leinwandkünstler vergangener Epochen. Aus der Filmwelt begeistern mich seit jeher Wong Kar Wai, Ang Lee und vor allem Hayao Miyazaki mit seinen Zeichentrickfilmen, in denen man ewig Kind sein und in Fantasie und Weisheit gleichermaßen schwelgen kann. Die Modewelt hat auch einen starken Einfluss auf meine Arbeit und Denkweise, aber nicht direkt die akuten Konsumwellen, die jede Saison neu einschlagen. Um konkret etwas zu nennen: Alexander McQueen, Vivienne Westwood und internationale Kostümgeschichte. Einige Kostüme von den Shootings stammen von mir.
Für viele Menschen mit vielfältigen Talenten ist es schwer, sich für einen Beruf zu entscheiden. Was ist dein Plan?
Meinen Master machen und dann schauen, was der Arbeitsmarkt bietet. In der Zwischenzeit habe ich vor, ein Dutzend Video und Fotoprojekte umzusetzen, damit ich mich nicht der Schande hingeben muss, dass mein Notizbuch voller ist, als mein Portfolio. Mir gefällt es, finanziell nicht von meiner kreativen Arbeit abhängig zu sein, dann kann ich mich ihr besser hingeben und hoffentlich ehrliche Werke schaffen.
Gibt es irgendein neues Projekt, eine Seite oder irgendwas sonst, das du hier gerne promoten würdest? Fire away!
Da wir so viel über den Glauben geredet haben, würde ich gerne eine Kampagne zur institutionellen wie kulturellen Akzeptanz des Islam in Deutschland vorstellen. Mit „Juma“ (Jung, Muslimisch, Aktiv) arbeiten wir an einem Videobeitrag zum Thema, der kurz vor der Bundestagswahl richtig durchstarten wird. Watch out! http://www.juma-projekt.de/
Und meine Internetseiten! http://www.nilgunakinci.com ist noch im Aufbau und hat so gesehen noch kein Release erfahren.
Dann gibt es noch http://www.nilgunakinci.tumblr.com/ und meine Facebook-Seite
http://www.facebook.com/nilgunakinciphotographer. Like, like, like!
Deine Familie kommt aus der Türkei. Spiegelt es sich in deiner Kunst, dass du in zwei unterschiedlichen Kulturen zu Hause bist?
Das kann gut sein. Aber wie das so ist, sehe ich den Wald vor lauter Bäumen nicht und stecke zu sehr in meiner Haut, um das zu beurteilen. Ich beschäftige mich mit vielen transkulturellen und Genderthemen, was ich – surprise, surprise – auch studiere. Mich faszinieren Dinge, die „out of the box“ gedacht sind. Das kommt sicher von meiner Macke, mich partout nicht in eine Schublade stecken zu lassen. In zwei Kulturen groß zu werden kann zwei Dinge bedeuten: entweder man fühlt sich keiner der beiden zugehörig und zurückgewiesen oder man sieht es als die größte Chance des Jahrhunderts und als Vorsprung in der Globalisierung der Welt.
Auf der Facebookseite „Muslima Pride“ hast du kürzlich erläutert, was es für dich bedeutet, Muslimin zu sein. Hat mich – ich bin nicht-praktizierende, evangelische Christin – ziemlich beeindruckt, der Text. Wie hat dich dein Glaube geprägt?
Ich habe in meiner Jugend ein Kopftuch getragen, die Zeit, in der andere Mädchen grelles Make Up und Flirts mit Jungs ausprobieren. Es war toll, muss ich sagen, ich hab mich gefühlt wie Shams-ad-Din, ein Sufi auf Wanderschaft, spirituell unglaublich reich. Aber es macht dich ziemlich früh und unvorbereitet zur Zielscheibe der Gesellschaft und seltsamerweise in irgendeinem Stockholm-Syndrom-Verdreher auch zu der der eigenen Familie, wie es mir aus anderen muslimischen Familien in Deutschland auch zu Ohren gekommen ist. Irgendwann war der Zeitpunkt gekommen, an dem ich diese Zielscheibe abgelegt hab und mich in die Anonymität der Kopftuchlosigkeit geflüchtet habe. Es mag seltsam klingen, aber die Gesellschaft hat es mir nicht gegönnt, mit einem Stück Tuch anders zu sein. Wieso wird in unserer Gemeinschaft so etwas intimes wie die Wahl der Kleidung überhaupt in Frage gestellt? Ich habe inzwischen meinen Frieden damit geschlossen, kann es aber nicht akzeptieren, dass anderen Frauen solch eine Diskriminierung widerfährt. Mein Glaube begleitet mich in meinem Alltag und bei besonderen Anlässen, aber ich würde sagen, dass er für meine Mitmenschen erst im Monat Ramadan auffällt, der dieses Jahr wieder in zwei Wochen eintrifft. Ich freue mich darauf, ganz viele Freunde und meine Familie zum Iftar – dem Fastenbrechen nach Sonnenuntergang – einzuladen und mit ihnen dieses Erlebnis zu teilen. Offenheit gegenüber den Welteinstellungen meiner Mitmenschen ist für mich essentiell, schließlich kennt die Offenbarung viele Wege, sich den Menschen zu zeigen.
Gender und Feminismus sind für dich – genau wie für mich – große Themen. Was bedeutet es für dich, eine Frau zu sein? Hier und heute, 2013, in Berlin?
Ich habe mir nach harter Arbeit eine Sexismus-freie-Zone geschaufelt, in der ich mich als Frau wohl fühle. Aber ich sehe, wie andere noch daran zu leiden haben, und solange irgendjemand diskriminiert wird, dürfen wir nicht aufgeben, die Gesellschaft den darin Lebenden menschenwürdig anzupassen. Sexismus wird häufig hinter anderen Vorwänden versteckt, wie Arbeitsmoral, Ausländerfeindlichkeit, pure Gewalt, „die Natur der Dinge“ – dass ich nicht lache. Aber irgendwann werden die Ausreden ausgehen, und bis zu diesem Zeitpunkt müssen wir dahinter stehen.
Sich mit Feminismus und damit automatisch auch mit Sexismus zu befassen, hat für mich lange Zeit bedeutet, eigentlich ständig wütend zu sein. Wie geht es dir damit?
In meiner Jugend war ich rasend vor Wut angesichts der Ungerechtigkeiten, denen ich selbst ausgesetzt war und der andere ausgesetzt waren, wie ich als Betroffene bemerkt habe. Ich frage mich, warum ich nie etwas umgestoßen habe, Autos, Zeitungsständer oder einfältige Lehrer. Zu viele Faktoren trafen aufeinander, Tochter einer akademischen jedoch patriarchischen Familie, Kopftuch-Punk auf einem Schnösel-Gymnasium, Immigrant in der dritten Generation (ich habe gehört, die sind die Besten, lange Vorlaufzeit) und eine Übersensibilität und Verantwortungsbewusstsein für das Leid auf der Welt und die Klimaerwärmung. Glücklicherweise habe ich Geduld, Motivation und Inspiration in den Frauenbildern des Islam und in den Romanhelden meiner Jugend gefunden. Ich hoffe, durch meine Werke, diese Kraft und Inspiration weitergeben zu können. Außerdem habe ich inzwischen die richtigen Menschen getroffen und gelernt, mit den Unrichtigen umzugehen. Sie sind nicht so übermächtig, wie es sich manchmal anfühlt und durch Aufklärungsarbeit, Dialoge und persönliche Kontakte, in denen man sich der Lebensgeschichte des anderen bewusst wird, kann man die Dinge hin zum Positiven bewegen. Omm!
Das Interview führte Melanie Raabe. Be friendly! Meet me at http://www.facebook.com/mademoiselleraabe. Ganze Biographien von mir gibt’s auf http://www.geschenkbuch-deluxe.de.
Fotos 1 bis 4 von oben: Selbstporträts von Nilgün Akinci, Fotos 5 und 6 von oben: privat, Foto 7 von oben: Natalia Le Fay
Kerstin, 32, München
„Be a light, not a judge“
Kerstin! Du hast eine ganze Weile in New York gelebt. Was hat dich in den Big Apple verschlagen?
Ich habe seit ich klein bin den Traum gehabt, mal am Broadway zu sein. Als ich 2005 als Musicalstudentin das erste Mal da war, um ein Auslandssemester zu machen, habe ich mich einfach in die Stadt verliebt, in die Energie, die da ist. Wie man da arbeiten kann, wie dort gearbeitet wird, wie die Leute da beruflich mit einander umgehen, das hat mir wahnsinnig gut gefallen. Und das Tempo auch. Und dann wollte ich einfach immer wieder hin.
Wie wird man in New York als deutsche Schauspielerin aufgenommen?
Ich wurde dort sehr gut aufgenommen, weil ich aber auch sehr positiv bin. Ich habe eine wahnsinnig positive Einstellung zu allen, und das mögen die und das sind die von Deutschen nicht unbedigt gewohnt. Und die finden natürlich auch alles, was nicht amerikanisch ist, total exotisch.
Warum hast du New York wieder den Rücken gekehrt?
Damals hinter meiner Schule, 2005, war eine Schießerei zwischen 13-Jährigen wegen Drogen. Die haben zwei Polizisten erschossen. Damals bin ich deswegen dann auch wieder weg, weil ich echt Schiss hatte. Und dieses Mal bin ich back for good in Bavaria, weil ich gemerkt habe, dass ich alles, was ich in New York gesucht habe, auch hier habe. Ich musste einfach sehr weit reisen und gehen, um zu merken, was mir wichtig ist und was ich eigentlich brauche, und seitdem bin ich auch hier sehr glücklich.
Mittlerweile lebst du in München. Hast du das Gefühl, angekommen zu sein oder meinst du, es zieht dich bald wieder weg?
Ja, ich habe das Gefühl, angekommen zu sein, endlich. Ob es mich weg zieht weiß ich nicht, ich weiß nur, dass ich es nicht mehr verwenden werde, diese Reisen, Übersee, um vor etwas zu fliehen. Der Drang, ganz weit weg zu ziehen, der ist glaube ich jetzt nicht mehr so da.
Du bist eine wunderbare Schauspielerin, Sängerin und Tänzerin. Empfindest du es als Segen oder als Fluch, multipel begabt zu sein?
Ich empfinde das absolut als einen Segen, ganz klar. Also mittlerweile. Am Anfang wollte ich mich immer für eine Sache entscheiden, habe sehr nach einer Lösung für meinen Beruf gesucht. Weil man ja gerne Klarheit hat. Aber jetzt habe ich gemerkt, dass es das Tollste ist, was ich mir vorstellen kann, so viele Möglichkeiten zu haben, mich auszudrücken. Zu Spielen, zu Singen, mich zu bewegen…
Hast du künstlerische Vorbilder?
Sehr viele Kollegen sind für mich Vorbilder. Ich kann da jetzt keine wirklichen Namen nennen, aber ich finde Kollegen toll, die schon lange im Beruf sind, die nicht kaputt sind und die bodenständig geblieben sind. Du hast zwar nach künstlerischen Vorbildern gefragt, aber das sind für mich Vorbilder in meinem Beruf, denn die haben dann meistens auch was drauf.
Mit welchem Künstler würdest du wahnsinnig gerne mal zusammen arbeiten?
Ich würde gerne mit Muse ein Lied aufnehmen (lacht), so als special guest, wenn das möglich ist. Was Film anbetrifft, würde ich gerne mal mit Martin Scorsese arbeiten, den finde ich ganz toll.
Du praktizierst Yoga, vor allem Bikram Yoga. Kannst du mal erklären, was das ist und warum du es den hundert anderen Yoga-Formen vorziehst?
Ich ziehe Bikram Yoga allen anderen Yoga-Formen vor, weil es das Yoga ist, das mich am meisten zum Schwitzen bringt, weil es ja bei 40 Grad praktiziert wird. Ich brauche etwas, das mich auspowert, das mich anstrengt. Ich habe noch nicht so viele Yoga-Formen ausprobiert, aber ich habe gemerkt, dass Bikram toll für meine Muskulatur ist, für meine Kondition, für die Haut. Und es macht mir einfach sehr viel Spaß, ich mag das Tempo dabei. Ich bin auch niemand, der vor’m Yoga chantet, also dieses meditative Singen praktiziert. Das ist nicht so meins. Ich mache das lieber als Sport.
Du strahlst sehr viel Ruhe und Zuversicht aus. Wie schaffst du es, gelassen zu bleiben, selbst wenn es um dich tobt und stürmt?
Das mit der Ruhe und Zuversicht sieht manchmal nur so aus, aber natürlich arbeite ich daran. Vielleicht wird das dadurch nach außen hin mehr und mehr sichtbar. Das ist ein ständiger Prozess und eine ständige Arbeit. Mittlerweile macht mir diese Arbeit Spaß, und ich meditiere ein bis zwei Mal am Tag. Wenn man sich sehr auf das eigene Innenleben konzentriert, dann kann einen das, was außen ist, auch nicht mehr so hin und her schleudern. Da bekommt man ein Vertrauen in das Leben und in die Richtigkeit von allem.
Welche Rolle spielt Spiritualität in deinem Leben?
Schon eine große. Kommt darauf an, wie man das definiert. Ich würde mich nicht als esoterisch bezeichnen, aber ich bin sehr energetisch. Ich finde, es sind ganz viele Energien um uns herum, und gerade im künstlerischen Beruf merkt man das ja auch ständig und arbeitet damit. Da bemerkt man ja, was da alles zwischen Himmel und Erde ist, das man nicht erklären kann. Und ich glaube das gehört zu Spiritualität dazu, diese ganzen Energien.
Hast du eine Lebensphilosophie?
Ich habe eine, die stammt von Anthony Hopkins. Die kann ich mittlerweile schon ganz gut unterschreiben mit meinen 32 Jahren: „Ich erwarte nichts und akzeptiere alles.“ Finde ich total toll. Und ich finde auch ganz toll: „Be a light, not a judge“. Weil einfach viel zu viel verurteilt wird in unserer Welt. Das würde ich auch als Lebensphilosophie betrachten: Leute und Situationen nicht zu beurteilen und stattdessen im Moment zu leben.
Wer oder was inspiriert dich?
Alle meine Freunde inspirieren mich jeden Tag. Die Natur inspiriert mich – (lacht) ich merke gerade, ich klinge total esoterisch, aber egal. Inspiration finde ich eigentlich überall, auch im Unterricht bei meinen kleinen Musik-Schülern. Die Musik inspiriert mich total.
Was macht dich glücklich?
Wenn ich arbeiten darf – das macht mich glücklich, wenn ich singen darf, wenn ich spielen darf, wenn ich am Set bin, wenn ich im Tonstudio bin, wenn ich mit Freunden bin, wenn ich in der Natur bin, wenn ich einfach nur die Bäume angucke von unten, die vielen Blätter und den Himmel und die vorbei ziehenden Wolken – das macht mich tatsächlich ganz, ganz arg glücklich.
Das Interview führte Melanie Raabe. Be friendly! Meet me at http://www.facebook.com/mademoiselleraabe. Ganze Biographien von mir gibt’s auf http://www.geschenkbuch-deluxe.de.
Fotos 1, 2 und 4 von oben: Robert Kohlhuber, Foto 3 von oben: Hagen Schnauss
Frank, 31, Berlin
„Keine halben Sachen“
Frank, du wohnst in Berlin, bist in Oberberg aufgewachsen, aber ursprünglich kommst du aus Hermannstadt in Siebenbürgen. Wie alt warst du, als deine Familie umgezogen ist?
Ich war zarte acht Jahre alt.
Ich war sieben, als meine Familie vom platten Land in der Nähe von Jena nach Oberberg gezogen ist. Ich fand’s aufregend – neue Freunde, neue Erlebnisse… Wie war das so für dich?
Ich glaube, ich war extrem schüchtern damals und durch das ständige Hin- und Herziehen, bis wir endlich im Oberbergischen Kreis landeten, hielt sich die Aufregung bei mir in Grenzen. Es hat schon eine Weile gedauert, bis ich Freunde gefunden und mich gegenüber der neuen Heimat geöffnet habe. Ich habe noch ziemlich lange mit „zu Hause“ Siebenbürgen gemeint, wenn ich mich mit meiner Familie unterhalten habe.
Deine siebenbürgischen Wurzeln bedeuten für mich vor allem: das fabelhafte Essen deiner Mom. Und für dich?
Ja, das ist schon ein großer Teil dessen, das hast du richtig erkannt! Ansonsten sind die geschichtlichen Wurzeln für mich als Nebenfachhistoriker natürlich faszinierend. Alles andere ist schwer zu beschreiben. Ich fühle mich jedes Mal wie im siebten Himmel, wenn ich dort bin und auf den Spuren meiner Kindheit wandle. Ich werde dann total sentimental und würde am Liebsten der ganzen Welt zeigen, wie schön es dort ist und was es alles zu entdecken gibt. Vielleicht mache ich das ja auch mal, später…
Du warst schon in Berlin angekommen, lange bevor „alle“ hingezogen sind. Ist Berlin immer noch die Stadt für dich?
Naja, das denkt, glaube ich, so ziemlich jeder von sich, der schon mindestens sechs Monate hier wohnt. (lacht) Nach über zehn Jahren Berlin bin ich der Stadt immer noch nicht überdrüssig. Mich nerven mittlerweile zwar einige Dinge ziemlich, aber andere möchte ich wiederum auch nicht missen. Die Stadt verändert sich sehr mit den vielen, vor allem jungen Leuten, die herziehen, um sich hier auszutoben und ihre Berlin-Illusion auszuleben beziehungsweise enttäuscht zu werden. Und wenn mir das alles dann irgendwann auf den Sack geht, ziehe ich raus nach Schöneweide und vergentrifiziere ein paar alteingesessene Nazis oder fliehe gleich ins Ausland.
Gibt es noch eine andere Stadt, in der du dir vorstellen
könntest, zu leben?
Schwer zu sagen. Ich mag viele Städte, aber ich könnte selbst von New York nicht sagen, ob ich es dort auf Dauer so lange aushalten könnte, wie in Berlin. Also um es zu versuchen, würde ich vielleicht mit New York anfangen… und wenn das Geld nicht reicht, dann Hamburg.
Was liebst du an Berlin?
Die Geschichte an jeder Straßenecke, die vielen Kieze, gute Currywurst, die Freizügigkeit, das viele Grün, Baulücken, den ÖPNV, all die lieben Menschen, die ich hier kennenlernen durfte.
Und was hasst du an der Stadt?
Die überdurchschnittlich starke Selbstbezogenheit und Ignoranz vieler Leute, das Gefühl, ungefragt Statist in einem großen Vergnügungspark zu sein, das Fehlen eines zukunftsfähigen und durchdachten Stadtentwicklungskonzeptes – ganz ehrlich!
Lass uns über Kunst reden. Hast du momentan einen Lieblingskünstler – aus welcher Sparte auch immer?
Da muss ich wirklich nachdenken. Also aus dem zeitgenössischen Bereich: Neo Rauch und Norbert Bisky. Letztes Jahr habe ich nach einem Museumsbesuch in Chemnitz Otto Dix für mich entdeckt. Was Kunst und Kultur grundsätzlich angeht, interessiere ich mich besonders für Fotografie, die Klassische Moderne und Mariah Carey. (lacht)
Welcher Künstler hätte deiner Meinung nach mehr Aufmerksamkeit verdient?
Der Musiker Le1f, die Fotografen Herbert Tobias und Frieda Riess – und Iwan Rheon. Diese Augen!
Ob Foto, Performance, Skulptur, Bild, Song oder wasauchimmer – welches Kunstwerk hat dich in letzter Zeit am meisten beeindruckt?
Während der Recherche für meine Magisterarbeit bin ich wieder über den chinesischen Künstler Xu Bing gestolpert. Sein „A Book From the Sky“ von 1988 hat mich sehr fasziniert. Er hat unzählige Schriftrollen und Buchseiten mit tausenden erfundenen Schriftzeichen bedruckt, die zwar chinesischen Zeichen ähneln, aber keine echten sind. Die vielen Druckstempel mit den fiktiven Zeichen hat er in jahrelanger Arbeit selbst geschnitzt. Das Spiel mit Sprache und Schrift ist sehr charakteristisch für ihn und hat mich sehr fasziniert. Als ich mit meinem Studium anfing, wurde
„A Book From the Sky“ gerade in Berlin ausgestellt, und ich möchte mich immer noch dafür in den Arsch beißen, dass ich nicht hingegangen bin.
Du hast während deines Sinologie-Studiums ein Jahr in China verbracht – hauptsächlich in Shanghai. Wie würdest du diese Erfahrung zusammenfassen?
Insgesamt als sehr erkenntnisreich und wertvoll. Ich würde zwar nicht gleich mit dem Wort „Kulturschock“ um mich werfen, denn das klingt irgendwie abwertend, aber die Andersartigkeit der Alltagskultur und die andere Perspektive auf die Welt fand ich echt aufregend – im Guten, wie im Schlechten. Vieles was andere „Westler“ um mich herum damals einfach nur „nervig“ oder „komisch“ fanden, hat mich meist neugierig gemacht. Ich habe die Andersartigkeit nie bewertet, sondern einfach als Realität angenommen, und das hilft beim Verständnis einer neuen Umgebung. Eine Erfahrung, die ich niemals missen möchte.
Hast du noch Kontakte nach China?
Ja, ich habe noch einige Freunde und Bekannte dort, die ich nach meinem Abschluss wieder besuchen möchte. Einige haben mich in Berlin besucht und je mehr ich von den Veränderungen in Shanghai, Peking und Co. höre, desto größer wird mein Fernweh.
Genau wie ich bist du auch ein ziemlicher Serienjunkie. Hast du das Ende von 30 Rock schon verkraftet?
Hach, das war schon schwer, das muss ich zugeben. Es war ’ne großartige Serie, die aber zum Glück rechtzeitig aufgehört hat. Tina Fey wird uns sicherlich noch mit schönen Sachen beglücken.
Was sind momentan deine Lieblingsserien?
Ähm, hier meine obligatorische Liste: Parks and Recreation, House of Cards, The Good Wife, Up all Night, Game of Thrones, VEEP, The Big C, Modern Family. Und mein All-Time-Coming-Out-Nostalgie-Favourite Will & Grace, was ich mir ein Mal im Jahr von Anfang bis Ende anschaue.
Gibt es ein Projekt – egal ob ein eigenes oder das von anderen – das du gerne promoten würdest? Hier ist die Gelegenheit!
Das Aufklärungsprojekt „queer@school“ des Jugendnetzwerks Lambda Berlin-Brandburg e.V. (http://queer-at-school.de/). Die gehen in Berliner Schulen und setzen sich für mehr Geschlechtergerechtigkeit und Akzeptanz sexueller Vielfalt und gegen Homophobie und Transphobie an Schulen ein.
Eine letzte Frage: Hast du ein Lebensmotto oder eine Lebensphilosophie?
Keine halben Sachen!
Das Interview führte Melanie Raabe. Don’t be shy! Meet me at http://www.facebook.com/mademoiselleraabe. Ganze Biographien von mir gibt’s auf http://www.geschenkbuch-deluxe.de.
Alle Fotos: privat