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Georg, 59, Frankfurt am Main
„We want the world, and we want it now.„
Georg! Dein bayrischer Dialekt ist nicht gerade unauffällig. Woher genau kommst du?
Ich bin 50 Kilometer entfernt von München, in Weilheim/Oberbayern geboren. Landkreis Weilheim-Schongau – der frühere Wahlkreis von Franz Josef Strauß und der jetzige von Alexander Dobrindt. Bevor ich nach Frankfurt floh, lebte ich lange Zeit in Huglfing. Huglfing liegt zwischen Untereglfing und Obermaxlried. Auch Spatzenhausen und Eberfing sind nicht weit weg. Und ja, wenn ich gut gelaunt oder aber sehr grantig bin, dann verfalle ich bisweilen zurück ins Bairische, jene bayerische Sprache, die in Altbayern gesprochen wird – und die, glaube ich, von der UNESCO als schützenswert eingestuft wurde. Ich kann aber auch ganz gut Hochdeutsch. Das bekommen all jene zu hören, mit denen ich nicht immer nur gerne Kirschen esse.
Wie war deine Kindheit?
Die Berge, die Seen, die Wälder, die Bäume, auf die wir gekraxelt sind, die angepassten Deppen vom FC Bayern mit denen wir, die aufrechten 60er, uns geprügelt haben. Der riesige Garten von der geliebten Oma väterlicherseits, 1885 geboren, 1989 gestorben, Ein Traum, der Garten, der mehr ein wilder Park war. Erdbeeren, Stachelbeeren, Himbeeren, Apfelbäume, ein kleines Schwimmbad, ein kleiner Wald, eine Kuh namens Sana. Die Hausangestellte der Oma, die Resi hieß und im Garten ihr Goggomobil abstellte. Das Gartenhäuschen, in dem wir die ersten verbotenen Küsse tauschten. Der Opa, mit dem ich Schach spielte und immer wieder die Oma, die uns Geschichten erzählte, von den Kriegen, von der Verfolgung durch die Nazis, vom ersten Radio, von den ersten Autos, vom ersten Fernsehapparat – und von jenen, die sie Ende April 1945 auf der Straße noch bespuckten – und ab Mai 1945 scheißfreundlich waren.
Und deine Jugend?
Vom Traum zum Alptraum. Weilheim in Oberbayern, die Stadt, in der ich geboren wurde, gehörte in den 60ern und 70ern zum Reaktionärsten weit und breit. Ringsum die Welt und die Künstler. Murnau, Dießen, Tutzing, Ambach – Künstlerkolonien. Starnberg, Garmisch-Partenkirchen – die finanzielle upper class. Und Weilheim? Beamte. Schlimme Kleinbürger. In der Wolle gefärbte Spießer. Die Eltern wohlhabend. Der Sohn unangepasst. Das konnte nicht gut gehen. Und es ging nicht gut. Immerhin: Wir dröhnten uns zu, mit allem was zur Verfügung stand. Hörten die Doors und die Stones und Jimi Hendrix und lasen Jack Kerouac und John Steinbeck und Jörg Fauser und lachten die Bürger aus. Ich schmiss die Schule, in der ich immer schlechter geworden war, meine erste Liebe hatte ein wenig geerbt: Sex and drugs and rock n roll, weg, nur weg, nach Kreta. Da, wo die Hippies mal gewesen waren.
Du bist Literaturagent, hast aber zuvor, wenn ich das alles richtig verstanden habe, noch eine Menge andere Stationen in der Literaturbranche durchlaufen. Gib uns doch mal ein „Georg Simader – was bisher geschah!“.
Das Abitur hatte ich nie gemacht, der Weg in die Arztpraxis der Mutter und das – mittlerweile verkaufte – Bankhaus des Großvaters blieben so gottlob versperrt. Zum Glück gab es das gedruckte Wort, und das hieß zuallererst: Widerstand gegen das Establishment. Los ging es mit einer Buchhandlung in meiner Heimatstadt, die es immer noch gibt, in der damals „linke“ Literatur verkauft wurde, aber nicht nur: Der verehrte Thomas Mann war des Öfteren in Polling, einem Ort, drei Kilometer entfernt von Weilheim, zugange gewesen. „Zauberberg“ als Name für eine Buchhandlung, in der es auch ein bisschen Rotwein und Müsli gab, hörte sich gut an, besser als „Doktor Faustus-Buchhandlung“. Also Buchhandlung Zauberberg. Doch die Zeiten wurden hart. Der Pfarrer, die Gegend um Weilheim heißt „Pfaffenwinkel“, predigte von der Kanzel: „Kauft nicht beim Zauberberg“, den Lehrern wurde gesagt: „Bestellt eure Klassensätze nicht dort“. Und die Polizei war oft gesehener Gast, verlegten wir doch auch eine reichlich dilettantisch gemachte, dafür aber rotzfreche und der Staatsmacht nicht genehme Zeitschrift namens „Wahn & Sinn“.
Flucht nach Hessen: Nach einer halbjährigen Urlaubsvertretung in der „Tucholsky Buchhandlung“ in Offenbach dockte ich beim „Pflasterstrand“, einer linken Stadtzeitung in Frankfurt, an. Der „Pflasterstrand“, was für eine große Welt! Joschka Fischer ging ein und aus, Daniel Cohn-Bendit wütete durch die Räume, Esther Schapira, Cora Stephan, Reinhard Mohr und viele andere schrieben – und ich, ich war ein kleines Licht im großen „Pflasterstrand“, wurde Werbeleiter, musste mir das Rüstzeug hierfür aber noch erarbeiten. Ein bisschen schrieb ich, eher überflüssiges Zeug, wie einen Restaurantführer, der sich überraschend gut verkaufte – aber ich wollte noch was dazulernen. Und das tat ich. Eine Ausbildung zum Verlagskaufmann folgte, in München, bei Antje Kunstmann. Abschluss? Brauchte ich nicht, aber gelernt habe ich was von dieser unerschrockenen Verlegerin, in diesem kleinen und ehrenwerten Verlag.
Jetzt war ich fast zehn Jahre in der Branche. Zeit, um einen eigenen Verlag zu gründen? Ich tat es, Ende der 80er Jahre, verlegte ein paar Kriminalromane, darunter die Werke des vielfach ausgezeichneten Robert Hültner, ein paar Regionalia, von Gastro bis Reise, und viele Fußballbücher. Stolz bin ich noch heute auf Uli Steins „Halbzeit“, eine Autobiographie des damaligen Skandaltorhüters, die es, mit annähernd 60.000 verkauften Exemplaren im Hardcover, auf die Spiegel-Bestsellerliste schaffte und mir Ruhm, Ehre und ordentlich Geld einbrachte. Doch Hochmut kommt vor dem Fall: Eine autorisierte Günter Netzer-Biographie, mit scheußlichem Cover, die zudem noch vor der Zeit kam, in der Netzer auch jenen was zu sagen begann, die keine Ahnung von Fußball hatten, brachte mich nahe an den finanziellen Abgrund. Da nütze es nichts, dass Netzer mich in seinem roten Ferrari mitnahm und feine Schweizer Weine offerierte – ich hatte zu lernen, wie man mit Geld jongliert.
1996 schrieb ich einen Brief an den damaligen Programmchef von Eichborn, Uwe Gruhle. „Lieber Uwe, die Zeiten werden härter, ich weiß nicht, wie lange ich das mit dem eigenen Verlag noch machen will und kann.“ Tags drauf rief mich Uwe an. „Georg, komm zu uns, scoute viel, lektoriere ein wenig, du hast eine Menge Erfahrung.“ Ich kam und blieb, und damals war Eichborn groß und noch was ganz Besonderes, ganz und gar unangepasst, mit schrägen Büchern und vielen Überraschungsbestsellern.
Uwe, die Vaterfigur, der verschmitzte, schielende, unangepasste und unglaublich gescheite Mann, brachte sich um. Ein Schock. Mit Wolfgang Ferchl, dem heutigen Knaus-Verleger, der damals schon angedockt hatte, verstand ich mich überhaupt nicht. (Solltest du das zufällig lesen, lieber Wolfgang, heute ist alles gut.) Ich mochte einfach keine Alphatiere, mein Vater war schon eines, und Ferchl auch. Ich ließ Ferchl spüren, dass er mir auf die Nerven ging, war zudem glücklos in Sachen Akquise neuer Autoren – also tat Ferchl das, wozu er das Recht hatte: Er schmiss mich, der ich lediglich einen zeitlich befristeten Vertrag hatte, raus.
Du führst heute deine eigene Literaturagentur, copywrite. Was hat dich dazu gebracht, Literaturagent zu werden?
Ich kann ja nichts anderes! Aber mal genauer: Spätestens bei Eichborn merkte ich, dass das Angestelltendasein nichts für mich sein konnte. Die großen Firmen auch nicht. Ein Meeting jagt das andere, Chefs haben die hellen großen Zimmer und die Subalternen jene mit weniger Licht, Strukturen schlagen Inhalte tot. Nicht meine Welt. Auch der Angestellte als solcher: Staatliche Rente, Arbeitslosenversicherung – interessiert mich nicht. Angsthaserei, verfluchte. Was mich aber interessiert: Bücher machen. Mit Autoren arbeiten. Neue Ideen aushecken. Und was ich bereits in der Tasche hatte: Eine Menge Kontakte in der Branche. Ich wusste bereits, wie und wo ich mich zu bewegen hatte. Und was ich ebenfalls wusste: Wie man Verträge auszuhandeln hat. Wie kämpfen geht. (Hätte ich studiert: Ich wäre mutmaßlich Strafverteidiger geworden. Heute handele ich – hoffentlich – gute Deals für Autoren aus. Und Straffreiheit, bei schlechten Manuskripten.)
Was macht einen guten Agenten aus?
Zum richtigen Zeitpunkt die richtige Tür öffnen, das ist die Hauptsache. Das hört sich allerdings jetzt ein bisschen einfacher an, als es ist. Was dazu gehört? Eine Menge Kontakte, Menschenkenntnis (passen Lektor und Autor zusammen?), Fachkenntnis und Literaturverständnis (passen Text des Autors und Verlagsprogramm gut zusammen?). Kann sich der Autor innerhalb des Verlages gut weiterentwickeln?
Agent sein, das bedeutet ja: Eine Ehe anbahnen. Eine Ehe zwischen Verlag und Autor. Ganz falsch wäre es dabei, auch wenn man als Agent rechnen können muss, lediglich auf die Mitgift des einen oder anderen zu setzen, vielmehr geht es darum: Werden die zwei auf Dauer glücklich? So kann es durchaus vernünftig sein, mal einen Vorschuss nicht zu hoch anzusetzen oder aber sich für einen kleineren Verlag zu entscheiden. Mal kann es sinnvoll sein, sich für einen Verlag mit einem sehr breiten Spektrum zu entscheiden, mal ist es richtig, einen Verlag zu wählen, der nur ein sehr kleines, dafür aber sehr aussagekräftiges Programm hat. Beide Partner sollen für lange Zeit zusammen passen, zumindest in der Belletristik. (Im Sachbuch geht’s deutlich mehr um das einzelne Buch.)
Einen schlechten Agenten zeichnet im Übrigen aus, dass ihn nur eines interessiert: Möglichst viel Kohle via Vorschuss rauszuschinden. Das füllt kurzfristig den eigenen Geldbeutel, langfristig schadet es, denn Autor und Verlag, Geben und Nehmen, stehen in einem unguten Verhältnis zueinander.
Was ist das Schönste an deinem Job?
Wenn ich die richtige Tür geöffnet habe. Bei einer Autorin namens Melanie Raabe ist mir das möglicherweise geglückt, bei vielen anderen, ob sie jetzt Stephan Thome, Rita Falk, Bernhard Aichner, Jan Costin Wagner oder wie auch immer heißen, hoffentlich auch.
Wobei: Ich sollte mich nicht mit fremden Federn schmücken. Stephan Thome, der Fuchs, mahnte immer wieder an: „Suhrkamp. Stell‘ den Roman doch Suhrkamp vor.“ Ich antwortete: „Massengrab, nichts da.“ Bis dann der wunderbare Karsten Kredel kam, der heute das Hanser Berlin-Programm verantwortet. Kredel wollte eigentlich für Suhrkamp einen Kriminalroman einkaufen, bekam anstattdessen den grandiosen „Grenzgang“ von Stephan Thome zur Lektüre. Doris Plöschberger machte aus diesem hervorragenden Buch einen Bestseller. Stephan Thome und Doris Plöschberger: Ein dream team. Alina Bronsky und Sandra Heinrici von Kiepenheuer & Witsch: Eine traumhafte Kombi. Jan Costin Wagner und Wolfgang Hörner von Galiani: Mutmaßlich ein Bund fürs Leben. Da sind Türen offen, die hoffentlich nie wieder zugehen.
Welches sind die größten Herausforderungen in deinem Job?
Mir einzugestehen, dass ich eine falsche Tür geöffnet habe. Nur ein Beispiel: Es ist mir ein Mal passiert, dass ich einen Autor richtiggehend verheizt habe. Hoher Vorschuss, problematischer Lektor, falscher Verlag (für diesen Autor). Wir sind reumütig zu seinem ursprünglichen – ziemlich geizigen, aber netten und kompetenten – Verlag zurückgekehrt. Ich schäme mich noch heute – und erinnere mich ungern an das Feixen der Programmchefin, die ihren geschätzten Autor wieder zurück in ihrem Stall hatte.
Ebenfalls eine große Herausforderung: Wenn ein Autor seinen Roman vergeigt hat. Wir alle wissen: So etwas passiert nicht mit böser Absicht. Und der Autor hat monate-, machmal jahrelang gearbeitet, erreicht mich als Leser aber nicht – oder jene nicht, denen er seine Geschichte erzählen will. Wie sag ich’s ihm? Das Unangenehme ist: Je erfolgreicher ein Autor ist, desto weniger wird mit ihm Klartext geredet. Die Verlage haben oft große Angst, einen erfolgreichen Autor zu verlieren, da wird dann gelegentlich Honig ums Maul geschmiert. Ich neige dazu, möglichst ehrlich zu sein. Ein Ritt auf der Rasierklinge. Denn ein Autor hat auch das Recht, den Agenten zu wechseln.
Und sonst: Mein Job verlangt, dass ich sehr viele Sachen gleichzeitig können muss: Hart sein, weich sein – und leidensfähig. Der Flop eines Buches trifft mich ja auch persönlich. Doch in dieser Situation habe ich den Autor aufzumuntern. Und nicht zu lamentieren.
Was magst du an der Arbeit mit Autorinnen und Autoren? (Und was weniger?)
Am Schönsten ist es natürlich, wenn ich einen Roman auf den Tisch bekomme, mit der Zunge schnalze, und mir sagen kann: „Juchhe, wunderbare Story, origineller Plot, alle Figuren sind richtig gezeichnet, und sogar die Orthographie stimmt.“ Dem Lektor mit stolz geschwellter Brust zu begegnen in dem Wissen, dass er genau den Roman bekommen hat, den er herbeigesehnt hat.
Schön ist natürlich auch, wenn Autoren (sorry, für das immer fehlende -Innen) ihre Fähigkeiten richtig einschätzen. Nicht jeder Autor ist ein Bestsellerautor, nicht jeder Autor ist ein Buchpreiskandidat, manche Autoren wissen sehr genau, wo ihre Grenzen sind – manche eben leider nicht. Da ist dann, wenn die Auflage nicht stimmt, immer der Verlag oder der Agent schuld, nie der Autor selbst – wobei ich beim Autor gar nicht von Schuld sprechen will. Es kann halt nicht jeder in der ersten Liga spielen.
Was liest du privat?
Privat und beruflich, das vermischt sich aufs Unerträglichste. Nie kann ich etwa einen deutschen Spannungsautor lesen, ohne an seinem Roman gedanklich mit dem Bleistift dabei zu sein und/oder mich zu fragen: Was macht eine Nele Neuhaus, einen Bannalec, einen Fitzek so erfolgreich? Insofern versuche ich, dies insbesondere im Urlaub, von deutschen Autoren die Finger zu lassen. Gerne lese ich Spannung, etwa psychologische Spannung und Politthriller. Ganz oben: Deon Meyer, Frederick Forsyth, Don Winslow. All time favorite: Patricia Highsmith. Ebenfalls in der ersten Liga: Stephen King. Dass ich Gillian Flynns „Finstere Orte“ noch nicht intus habe, ist eine Schande, wo ich doch „Gone Girl“ für einen der besten Spannungsromane aller Zeiten halte. In seiner pointierten Gesellschaftskritik beinahe ebenbürtig mit Jonathan Franzens „Korrekturen“.
Im Laufe der Zeit hat sich das Leseverhalten verändert. Eine Berufskrankheit vielleicht. Unendlich viele Romane liegen rum, zur Hälfte gelesen, angelesen – nur, damit man mitreden kann. Die Frage, die wir uns stellen, lautet immer seltener: Gefällt uns ein Roman? Und warum? Sondern: Funktioniert ein Roman? Und weshalb? Das ist scheußlich, aber kaum zu ändern.
Wenn ich einmal alt bin, so richtig alt, dann werde ich erneut das Gesamtwerk von Thomas Bernhard lesen. Ich liebe seine Sprache, seinen Rhythmus, seine Musikalität – und er ist so herrlich böse. Überhaupt, wenn ich alt bin, dann sind sie alle wieder dran, die Idole meiner Jugend: Hemingway, Heinrich Heine, Garcia Marquez, Dostojewski. „Oblomow“ von Gontscharow lese ich dann bestimmt zwei Mal und lache mir einen ins Fäustchen.
Hast du schon einmal in Erwägung gezogen, selbst ein Buch zu schreiben? Du bist ja als jemand bekannt, der gerne Klartext redet. Vielleicht schreibst du ja irgendwann ein Buch, in dem du dir die Branche – inklusive divaesker Autoren und schwieriger Lektoren – zur Brust nimmst?
Ha! Gedanklich bin ich schon dabei. Veröffentlicht wird es mutmaßlich kurz vor meinem Ableben – damit ich mich nicht mehr mit Schadensersatzklagen wegen persönlicher Diffamierungen rumschlagen muss. An meinem Grab können sie dann rumwüten, wie sie wollen, das ficht mich nicht mehr an.
Einen Teil des Jahres verbringst du in Italien. Woher kommt deine Italienleidenschaft?
Papa, Mama, Schwester und ich: Im Sommer ging es mit dem Auto immer über die Alpen. Papa mit der Zigarre im Mund, Mama mit ihren filterlosen Zigaretten, das Auto nebelverhangen – aber kaum war man über dem Brenner, wurden die Fenster geöffnet. Der Himmel blau, das Essen großartig, die Sprache fremd – und ich befürchte, dass ich sogar ein libidinöses Verhältnis zu den Carabinieri entwickelt habe. Zumindest finde ich sie putzig.
Offensichtlich bist du ohnehin sehr reiselustig. Welches war deine schönste Reise?
Du bringst mich ins Grübeln. Mit Walter Lendl (bedeutendstes Werk: „Darum nerven Österreicher“) die sechs Wochen im Westen der USA? Er, der österreichische, damals noch führerscheinlose Grantler, auf dem Beifahrersitz, der mit seiner Deprimusik unendlich nervte – aber die grandiose Landschaft machte alles wieder wett. Von San Francisco Richtung Norden, vorbei an Mendocino, bis fast nach Oregon. Und weiter durch endlose Wälder, durch die Wüste, Death Valley, nach Las Vegas – und über trostlose Käffer zurück nach San Francisco. Lendl glucksend, fröhlich, die Kamera aus dem Fenster haltend – und irgendwann gab’s sogar halbwegs erträgliche Musik.
Oder waren es die Reisen mit Christina, meiner Lebensgefährtin, nach Vietnam? Ach, Hanoi, ich liebe dich und deine Buntheit und dein Chaos! Du bist meine liebste Großstadt, weltweit.
Eine Reise, die ich nie vergessen werde, die ging in den Tschad, wo meine frühere Freundin arbeitete. In die Rebellengebiete am Logone, dem Grenzfluss zu Kamerun. Nachts klapperten die Krokodile, nur wenige Hütten hatten Strom, und als ich einmal nicht aufpasste und wagemutig alleine loszog, hatte ich ein Messer am Hals.
Wenn diese Reise unter deine schönsten fällt, welche war dann die grässlichste?
Sizilien, Taormina, März 1996. Kaum Geld, die Beziehung am Ende. Alleine in einer billigen Pension, es regnete eine Woche lang in Strömen, es war kalt. Ich hatte alles ausgelesen, nur noch ein sehr überflüssiges Buch von Gisbert Haefs im Gepäck. Als ich mich schlussendlich durch das durchgequält hatte, dachte ich mir: Fahr‘ Richtung Palermo, der Wetterbericht spricht von einem Zwischenhoch dort. Ich steige in den gemieteten Fiat Panda, Sturzbäche überall, das Hotel bezahlt – aber ich konnte nicht losfahren. Einer dieser verbrecherischen Sizilianer hatte mir den Scheibenwischer geklaut.
Salvatore, wenn ich dich erwisch, dann schmeiß ich dich bei lebendigem Leib in den Ätna!
Mit welchem Menschen – egal ob noch am Leben oder schon tot, ob prominent oder nicht – würdest du gerne mal eine Nacht an der Bar verbringen und eine Flasche Whisky leeren (oder zwei)?
Wenn ich gut gelaunt bin: Mit dem Schauspieler Bjarne Mädel, möglicherweise ein Seelenverwandter. Bei schlechter Laune: Mit Markus Söder. Der kriegt zwei Flaschen. Und darf sie auf Ex ganz alleine trinken. Ich schau dabei zu.
Was macht dich glücklich?
Der Lago di Mezzano. Ein kleiner Vulkansee nahe Farnese, meiner italienischen Zweitheimat. Da der Italiener als solcher mehrheitlich nicht schwimmen kann oder will, sondern nur im Meer planscht und sowieso ein bisschen Angst vor Süßwasser und Einsamkeit hat, bin ich dort im Sommer fast immer alleine. Schwimmen, schwimmen, schwimmen. Ruhe. Blauer Himmel. Und in der Ferne der Monte Amiata.
Was ärgert dich maßlos?
Die Ampel da vorne am Eck. Der Deutsche und seine Ampeln. Pro Stunde fahren vielleicht 20 oder 30 Autos da entlang. Siemens, Ampelhersteller, hat mutmaßlich einen Geheimpakt mit der Mineralölindustrie. Und die Deutschen? Niemand begehrt auf. Sie bleiben gottergeben stehen. Deutsche halten sich an die dümmsten Vorschriften. Wie sagte schon Lenin (oder war es Tucholsky)? „Revolution in Deutschland? Das wird nie etwas. Wenn diese Deutschen einen Bahnhof stürmen wollen, kaufen die sich vorher noch eine Bahnsteigkarte!“
Hast du ein Lieblingszitat? Oder ein Lebensmotto?
We want the world, and we want it now. (Jim Morrison, The Doors.)
Welche Frage habe ich vergessen? Und das, obwohl du eine großartige Antwort auf sie gehabt hättest? (Wie lautet die Antwort?)
Literaturagent, das ist dein Lieblingsberuf, das merkt man dir an. Was, wenn die Wege anders verlaufen wären?
Nun ja, Strafverteidiger, das sagte ich oben schon. Gerne auch Diktator. Ein guter Diktator. Einer, bei dem Frau Petry, Herr Seehofer, Herr Söder und dieses Ekel aus Dresden und dieser Hundsfott aus Erfurt nichts zu lachen hätten. Und keine Tiere mehr gequält werden dürften. Und es weniger roten Ampeln gäbe, sondern mehr Rücksicht aufeinander. Und Amazon schon längst dazu verdonnert worden wäre, Steuern zu zahlen, auch rückwirkend. Und die Deutsche Bank nicht mehr Deutsche Bank wäre, sondern eine luxuriös ausgestattete Unterkunft für Neuankömmlinge aus anderen Ländern und Kulturen.
Gibt es das Berufsbild „Gott“? Das wäre eine weitere Option. Als ich noch klein war, sehr klein, und mich meine jüngere Schwester wegen einer Banalität bei meinen Eltern verpetzt hatte, zog ich sie zur Seite und sagte: „Schwesterchen, bitte sag es niemandem weiter. Du musst ganz vorsichtig sein, darfst mich nie verpetzen. Denn ich bin nämlich Gott. Und zu Gott ist man gut.“ Eine Zeit lang glaubte sie das und ich lachte diebisch.
Die copywrite Literaturagentur findet sich hier: www.copywrite.de.
Das Interview führte Melanie Raabe.
Foto: Christina Hucke
Sasha, 39, Köln
„Ich habe mich damit abgefunden, dass das Leben herrlich sinnlos ist, was auf mich sehr befreiend wirkt.„

Foto: Eva Kruse-Bartsch
Sasha! Du bist zum einen bildende Künstlerin – du malst klassisch mit Farben, du machst Street Art und du malst mit Licht. Erzähl doch ein bisschen, wie es dazu gekommen ist und was du an der bildenden Kunst liebst.
Sie bildet. Kunst macht das Leben schöner und manche Realität erträglicher. Wie wäre denn das Leben ohne Kunst? Es ist deprimierend, wenn man das Leben nur auf das Stillen der Grundbedürfnisse und auf die Funktion reduziert. Kunst fängt dort an, wo es Fülle gibt. Innere oder äußere. Kunst entspannt, regt an und bereichert. Sie ist durchaus lebensbejahend und bewegend. Sie steht über Politik und Grenzen, Sprachbarrieren und Regeln. Diese Sprache ist für jeden offen.
Es ist eine Welt, in der keine Lüge existiert, weil in der Kunst alles erlaubt ist.
Für mich ist Kunst ein Rätsel. Ich liebe auch die unendlich vielen Ausdrucksformen und Möglichkeiten. Kunst gibt mir die Möglichkeit, mich selbst zu kultivieren, zu entwickeln und neu zu entdecken, mich selbst zu überraschen.
Wie ist es dazu gekommen…? Als Kind habe ich gerne gemalt, wie jedes Kind es tut, dann habe ich ein paar Techniken gelernt und angefangen, meine Ideen zu realisieren. Dieser Prozess ist bei mir sehr langsam. Es gab Stadien in meiner Arbeit, in denen ich meine Träume, Depressionen, Ängste oder Beziehungen zum Ausdruck brachte. Ich arbeite mit dem, was gerade da ist, und wenn es zu persönlich ist, behalte ich es für mich. Manchmal bin ich voller Taten, manchmal ist es lau.
Seit 2007 male ich auch mit Licht, was sich technisch sehr von der klassischen Malerei unterscheidet, allein schon deshalb, weil du gar nicht vor dir siehst, was du gerade gemalt hast. Es wird erst später auf dem Foto sichtbar, und wenn es nicht gelungen ist, dann machst du es noch mal. Meine Kollegen von Lichtfaktor (Kölner Kollektiv von Light-Painting-Künstlern, Performern, Fotografen und Medienkünstlern, Anm. der Bloggerin) scherzen, dass ich nie zwei Sachen gleich malen kann…

„Dream“ by Sasha Kisselkova
Außerdem schreibst du. Was liebst du am Schreiben?
Am Schreiben generell liebe ich meistens die Dinge, auf die ich ohne das Schreiben nicht kommen würde. Sie entstehen im Prozess. Durch das Schreiben lerne ich viel.
Schreiben ist auch Magie. Mich fasziniert, dass die Worte, die so immateriell sind, so eine unglaubliche Kraft haben können. Überhaupt: Die Sprache ist ein mächtiges Instrument. Und jede ist so anders. Jede hat eigene Dynamik und Atmosphäre. Auf Russisch schreibe ich ganz anders als auf Deutsch.
Außerdem ist es, praktisch gesehen, die günstigste aller Künste: fürs Schreiben brauchst du nur deinen Kopf, Papier und Stift, und dann hast du eine Welt erschaffen. Ist das nicht göttlich?
Dazu habe ich die Möglichkeit, mehrere Leben zu erleben und verschiedene Welten und Zeiten zu bereisen. Alles aus meinem Zimmer. Ich kann eine Königin oder eine Kriminelle werden, Mann oder Frau, oder beides, so wie ich will… und es ist alles genehmigt.
Wer sind deine Lieblingsautoren und warum?
Ich mag alles von zeitloser Klassik bis zu Unterhaltungsliteratur. Und ich liebe Märchen. Vor allem liebe ich Bücher, an deren Ende man traurig ist, dass die Geschichte vorbei ist.
Ich liebe Leo Tolstoi. Seine Beschreibungen und seine Liebe zum Detail sind unglaublich präzise. Es ist so spannend, in seine Welten einzutauchen und sie zu erleben, zu schmecken und zu riechen. Eigentlich hast du keine Wahl, er zieht dich hinein und lässt nie wieder los. Es gibt keine einzige Zeile, die ich kritisieren könnte. Durch seine Werke spricht er direkt zu deinem Unterbewusstsein.
Ich mag Dostojewski für sein Verständnis des Abgründigen in der menschlichen Seele und seinen schwarzen Humor, der manchmal so gnadenlos peitscht.
Mikhail Bulgakov hat mir damals in seinem „Meister und Margarita“ einen Anstoß gegeben, die Dinge neu zu betrachten.
Verwirrender Kafka, er erinnert an die Träume, die ich nie geträumt habe.
Mit Daniil Charms könnte ich sterben vor Lachen. Ich bin aber der Meinung, dass er nur auf Russisch funktioniert.
…Ilf und Petrov mit ihrem unverschämten Humor und ihren scharfsinnigen Beobachtungen der Absurditäten und mit ihrer Liebe zum Abenteuer, mit herrlichen Halunken und spitzfindigen Namen.
…Hermann Hesse mit seinen Seelenwanderungen und dem Drang nach Realisierung des Selbst.
Ich liebe Kortazar für die Alternative, die er in seinen Werken anbietet, für das Gefühl, was Leben bedeutet. Er hat mir mal den nötigen Tritt in den Hintern gegeben.
Salinger lese ich immer wieder. Er ist unsterblich.
Michael Ende finde ich toll. Er zeigt Kindern tolle Welten und geißelt die Erwachsenen für die verlorene Lebensfreude.
Mark Twain und Astrid Lindgren begleiten mich seit meiner Kindheit. Und autorenlose Märchen aus aller Welt, vor allem die Russischen.
Das erste Buch, aus dem ich vorgelesen habe, war das Dschungelbuch von Rudyard Kipling! Ich las das im Kindergarten für alle Kinder vor. Da waren noch ganz tolle Illustrationen drin…
Jorge Louis Borgues, Haruki Murakami, Gillian Flynn, Fred Vargas, Sir Arthur Conan Doyle, F.S. Fitzgerald… die Liste könnte unendlich lang werden. Und nicht zuletzt Melanie Raabe, die so gut wie gar nichts braucht, um eine Geschichte spannend zu gestalten. (Ich werde rot. Danke! Anm. der Bloggerin)
Wer sind deine Lieblingskünstler und warum?
Diese Palette ist auch sehr bunt, von Botticcelli und Bosch bis zu modernen Comic-Zeichnern und Streetart-Künstlern. An manchen Künstlern fasziniert mich die Technik, an den anderen die Aussagen und Ideen.
Ich liebe Gerhard Richters Wirkung auf mich. Jedes Mal, wenn ich ein Werk von ihm betrachte, bin ich verwirrt. Er ist ein Großmeister der modernen Kunst.
An Picasso mag ich mehr seine revolutionäre, unabhängige Art, seine Frechheit, die sich in seiner Kunst spiegelt, als seine Kunst selbst.
Ich mag Banksy. Ich hatte sogar dieses Jahr das Glück, sein Dismaland zu besuchen. Er präsentierte dort die Werke von ungefähr 50 Künstlern, und jeder von ihnen war erste Sahne! Es war ein großartiges Erlebnis.
Ich liebe Ernst Fuchs. Ich war eine Zeit lang so begeistert von der Energie in seinen Bildern und seinem Leben, dass ich auf einer Ausstellung von ihm an nichts anderes denken konnte, als ihn darauf anzusprechen, mich als Schülerin aufzunehmen. Ich habe mich nicht getraut.
Nikolai Roerich hatte ein unglaublich feines Gefühl für Licht und Farbe. Alles ist bei ihm so leuchtend und majestätisch still. Ich hätte gerne ein Bild von ihm!
Ich mag Faith47 dafür, dass sie meistens ihre großartigen Werke in Ghettos für die armen Menschen malt.
Die mutige Marina Abramovic. „The Artist is Present“ war meiner Meinung nach eine Heldentat. Die Frau ist großartig.
Dave McKean ist Kafka in der Kunst, er hat seine absolut eigene, unverkennbare Traumwelt und ist ein vielseitiger Künstler dazu.
Jon J. Muth ist ein sehr atmosphärischer Comic Gestalter. Er beherrscht verschiede Techniken von Aquarell bis Kalligrafie mit einer unglaublichen Leichtigkeit. Ich mag auch, dass er seine Frau in jede Geschichte reinmalt.
Jim Avignon ist für mich ein Freund und ein Geheimnis. Er scheint an der Quelle der Ideen sein Haus gebaut zu haben und in einer anderen Zeitdimension zu leben. Sein Tag hat wahrscheinlich 40 Stunden… Ich weiß gar nicht, wann er das alles schafft. Er kann innerhalb eines Tages jede Halle mit tollen Bilder füllen und macht noch ein Konzert dazu.
BLU spiegelt unsere Gesellschaft auf riesigen Mauern. Mit wenig Mitteln bringt er es immer auf den Punkt.
DRAN finde ich so, so, so witzig. Ich liebe seine bösen Bilder.
Andy Kaufman finde ich genial und sehr überzeugend.
Und ich bin ein großer Fan von Steven Jay Russell, auch wenn er kein Künstler im traditionellen Sinne ist, eher ein Lebenskünstler. Ich finde, man sollte ihn frei lassen!
Ich liebe Vivienne Westwood, Yayoi Kusama, Scott Hampton, Raymond Lemstra, Laszlo Milasovszki, Trisha Brown, Nick Cave und viele mehr.
Und ich stehe auf alle jungen Künstler, die unsere Städte und Straßen schöner machen und uns zum Nachdenken und zum Lächeln bringen.

Light Painting für Lichtfaktor by Sasha Kisselkova
Wo und wie bist du aufgewachsen?
Ich bin in Sibirien groß geworden. Oft umgezogen. Viel Zeit im Wald verbracht. Vielleicht zu viel. Im Winter und im Sommer war ich immer draußen. Ich habe viele tolle Orte und geheime Verstecke entdeckt. Ich erinnere mich nicht daran, dass meine Eltern ständig auf mich aufgepasst haben, so hatte ich völlige Freiheit. Ich hatte immer viele Tiere um mich herum. Hunde, Katzen, Vögel. Ich durfte jedes Tier mit nach Hause nehmen. Ich habe auch sehr viel gemalt und seit meinem fünften Lebensjahr viel gelesen.
Wie warst du als Kind?
Sehr neugierig und nicht besonders sozial. Ich war ein wenig wild, als ich mit sechs für ein Jahr in den Kindergarten musste. Aus dem Wald in die schreiende Zwergenmenge, es war hart. Ich habe dort sogar ein Mädchen gebissen, weil sie mir ein Buch über Papagaienarten weggenommen hatte und nicht zurückgeben wollte. Sie war größer als ich und wedelte vor mir mit dem Buch und provozierte mich mit „Na, hol es dir!“. Wir wurden danach beste Freundinnen.
Ich bin ständig aus solchen Anstalten wie Kindergarten oder Schule weggerannt und habe nach Abenteuern und Freiheit gesucht. Wenn ich keine Mitstreiter fand, machte ich es allein. Einmal rannte ich aus dem Kindergarten weg, weil ich keinen Mittagsschlaf halten wollte. Es war ein wunderschöner Herbsttag, rote und gelbe Blätter bedeckten den Boden, die Sonne schien, die Luft kann ich jetzt noch riechen und die Geräusche hören… ich nahm meine Sachen und floh durch das Toilettenfenster. Am Abend wurde meine Idylle mit Gebell von abgerichteten Hunden zerstört…
Ich glaube, ich war kein Traumkind für meine Eltern, wir hatten viele Konflikte, aber es war nie langweilig.
Ich war sehr wissbegierig und stellte viele Fragen. Lernen fiel mir sehr leicht, mich zu benehmen sehr schwer. Ich hatte ein riesiges Problem mit Autoritäten… Später hatte ich gute Freunde, mit denen ich sehr viele Dinge ausprobiert hatte, für die meine Eltern sich geschämt haben. Ich hoffe, sie werden eines Tages noch richtig stolz sein.
Was hat dich nach Köln verschlagen?
Es ist eine lange und gefährliche Geschichte. 😉 Um sie kurz zu halten und nicht zu viel dazu zu erfinden – die Lebensumstände waren so, dass ich umziehen musste, aber ich hatte auch nichts dagegen. Also betrachte ich es im Nachhinein als ein spannendes Abenteuer.
Was magst du an Köln?
Köln ist offen und international. Diese Stadt ist sofort mein Zuhause geworden. Es war die Liebe auf den ersten Blick, auch wenn die Stadt an sich nicht so viele schöne Anblicke anbietet – die Menschen hier sind fantastisch. Und der Dom!
Für wen – egal ob berühmt oder nicht, ob Mann oder Frau, lebendig oder tot, real oder fiktiv – schwärmst du?
Eine dieser Personen ist meine liebste Freundin. Über Menschen wie sie sagt man, alles was sie anfassen, wird zu Gold. Außerdem hat sie eine tiefe Einsicht, kombiniert mit dem feinsten Sinn für Humor. Sie sollte Bücher schreiben!
Ich schwärme für den großzügigen Jay Gatsby (Protagonist aus F. Scott Fitzgeralds Roman „The Great Gatsby“, Anm. d. Bloggerin)
Ich liebe und bewundere Alexandra David-Neel. In ihre Zeit hatte sie so krasse Reisen unternommen, die für einen Mann schon fast unmöglich waren, geschweige denn für eine Frau. Als Jugendliche ist sie von Zuhause abgehauen, um von Frankreich nach Spanien mit dem Fahrrad zu reisen. Mit 57 ist sie zu Fuß nach Tibet gegangen, verkleidet und getarnt, weil Tibeter keine Ausländer hinein ließen. Sie war die erste westliche Frau, die dieses Land betrat. Sie ist mit fast 101 gestorben.
Jesus finde ich richtig cool. Aber nicht den leidenden, den man auf den Ikonen sieht, sondern den 100 Prozent lebendigen, freien und rebellischen.
Ich schwärme für Nick Cave. So ein vielseitiger, eigenartiger Künstler und intelligenter Mann. Es tut mir sehr, sehr leid, dass er seinen Sohn verloren hat.
Was ist das Schönste oder Aufregendste, das dir jemals passiert ist?
Das behalte ich für mich.
Welches ist die wichtigste Lektion, die du bisher gelernt hast?
Dass ohne schlechte Ereignisse manche guten Dinge nicht geschehen würden.
Erzähl etwas über deine bisher schönste, interessanteste und/oder aufregendste Reise!
Ich hoffe sie liegt noch vor mir. 😉
Aber ich denke immer wieder gerne an eine abenteuerliche Reise, die ich mit einer Freundin unternommen habe. Es war eine 17 Stunden lange Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn. Der Zug war voll, und wir bekamen keine Schlafplätze in einem geschlossenen Abteil, sondern ganz schlechte Sitzplätze im offenen Waggon neben der Toilette. Es war voll und lustig, es gab viele nette Mitfahrer. Einige hatten Musikinstrumente dabei, und wir sangen zusammen. Irgendwann, fast betäubt von Toilettengerüchen, sind wir in einen anderen Waggon gegangen, der besser war als unserer, lernten dort neue Menschen kennen und haben angefangen, mit ihnen über Gott und die Welt zu diskutieren. Die angesprochenen Themen führten zu großen Meinungsverschiedenheiten und kamen nicht gut bei der Zugpolizei an, den Kosaken. Wir wurden als Unruhestifter verhaftet. Sie brachten uns mit einem Konvoi in ihren komfortablen Polizeiwaggon, sperrten uns dort ein und stellten einen Wachmann vor die Tür. Zwei Kosaken saßen mit uns im Abteil. Erst haben wir über unsere Rechte diskutiert, die Situation und die Kosaken ausgelacht, was zu einem Redeverbot führte. Wir haben es auch ohne zu reden sehr gut verstanden, dass wir diese Reise ziemlich gemütlich fortsetzen können, wenn wir standhalten. In unserer Haft aßen wir gute Hausmannskost, konnten ausschlafen und haben uns dabei ordentlich beschwert über die Einschränkungen. Erst am Ende der Reise haben wir ihnen verraten, was für einen großen Gefallen sie uns getan haben. Zu dem Zeitpunkt haben wir uns schon fast befreundet und zusammen beim Biertrinken Karten und Domino gespielt.
Was inspiriert dich?
Liebe, Gerüche, Essen, Sounds, neue Erfahrungen aller Art, starke Charaktere.
Hast du Vorbilder?
Nicht wirklich. Es gibt Menschen, die ich liebe und Künstler, die ich bewundere, aber ich möchte die beste Version meiner Selbst sein.
Was macht dich glücklich?
Verliebt sein. Achtsamkeit, meine eigene und die der anderen. Ein gut gelungenes Projekt. Im Flow sein. Über eigene Grenzen hinaus gehen. Reisen. Kreieren. Erfüllte Träume. Tief berührt sein. Kleinigkeiten. Ich habe da eine Liste, die fünf Seiten lang ist.
Was ist der Sinn des Lebens?
Liegt er in der Vergänglichkeit? Oder vielleicht darin, das Leben schöner und spannender zu gestalten drum herum? Die Dinge zu schätzen, die man hat?
Ich habe als Teenager intensiv danach gesucht und bin verschiedenen Ideen gefolgt, habe Freunde mitgezogen. Ich habe alles Mögliche, aber keinen Sinn gefunden, und ich habe mich damit abgefunden, dass das Leben herrlich sinnlos ist, was auf mich sehr befreiend wirkt. So oder so muss man irgendwann alles loslassen.
Welche Frage habe ich vergessen zu stellen – und das, obwohl du so eine gute Antwort darauf gehabt hättest?
Ich hätte eher gerne eine Antwort gewusst. Was ist für dich der Sinn des Lebens?
Mehr über Sasha gibt es auf: https://www.behance.net/foryou
Das Interview führte Melanie Raabe.
Foto: Eva Kruse-Bartsch. Bilder: Sasha Kisselkova.
Leander, 33, Berlin
„Wir sind alle Glückskinder der Geschichte.„
Leander, du hältst unglaublich viele Bälle gleichzeitig in der Luft. Du bist Blogger, Berater, Vortragsredner, seit vergangenem Jahr Dozent an der Universität der Künste in Berlin und zeichnest für viele spannende Projekte innerhalb der Buchbranche verantwortlich. So viele, dass ich sie hier gar nicht alle aufzählen kann. Was antwortest du auf die Cocktailpartyfrage: „Und, was machen Sie so?“
Seit diesem Jahr sage ich, dass ich Gründer von Orbanism bin. Dort wollen meine Mitgründerin Christiane Frohmann und ich die sich abzeichnende Contentbranche der Zukunft bereits heute abbilden und befördern. Bei Orbanism bringen wir all unsere Tätigkeiten, Projekte und Netzwerke gemeinsam ein und bündeln sie. Als erstes neues Veranstaltungsformat läuft jetzt das vom Hauptstadtkulturfonds geförderte Remix-Festival „Falling in Love“. Hier bekommt ihr schon einen guten Eindruck, worum es geht: https://twitter.com/hashtag/fil15
Auf welches deiner vielen Projekte bist du besonders stolz?
Da kann ich eigentlich keines besonders hervorheben. Stolz bin ich wenn dann darauf, dass ich seit dem Studienende vor acht Jahren erfolgreich selbstständig bin und mich dabei auch immer wieder neu erfunden habe. Mir gibt jedes der Projekte wie „Ich mach was mit Büchern“, #pubnpub und der Virenschleuder-Preis unendlich viel, weil es Formate sind, die Menschen zusammenführen und dadurch Neues und Gutes entstehen lassen. Denn die Zukunft können wir nur gemeinsam gestalten. Das zu initiieren, voranzutreiben und dann zu beobachten, ist das Schönste für mich.
Bei so viel Arbeit – ist dein Smartphone jemals aus?
Warum sollte es aus sein? Ich nutze mein Smartphone auch privat gern. Diese Trennungen zwischen beruflich und privat sowie zwischen online und offline sind mir zunehmend fremd. Ich genieße den Luxus, immer mit anderen Menschen verbunden zu sein, aber selten unmittelbar erreichbar sein zu müssen, wie das bei vielen Leuten der Fall ist, die gern ihr Smartphone demonstrativ ausschalten. Bei mir kommt es eher vor, dass ich es einfach vergesse, wenn ich mit Leuten zusammen bin und etwas erlebe. Während der re:publica habe ich glaube ich wieder nur fünfmal getwittert, weil ständig was los war. Es geht darum, das in dem Moment Wertvolle zu wertschätzen und das Digitale einzusetzen, wo es dieses bereichern kann.
Was machst du, wenn du nicht arbeitest?
Das, was ich mache, wenn ich nicht arbeite, mache ich nicht selten kurz darauf zu meinem Beruf. Das ist ja der Witz bei der Sache, wenn man seinen Job selbst erfindet. Diese Möglichkeit haben wir heute alle. Schon in der Schule habe ich gern meine Banknachbarn vollgequatscht mit irgendwelchen Dingen, die mich interessierten. Nichts anderes tue ich heute als Blogger. Als Kind habe ich mir gern Spielwelten ausgedacht. Nichts anderes tue ich heute mit meinen Veranstaltungsformaten. Unabhängig davon habe ich ganz normale Interessen von Fußball (Werder Bremen) bis hin zur Geschichte, die ich liebe. Zudem bietet Berlin meinem Entdecker-Gen reiches Futter.
Wo bist du aufgewachsen (und wie war das so)?
Ich bin in Greifswald an der Ostsee aufgewachsen – unterbrochen von einem Jahr an der High School in Montana (USA). Dort groß zu werden, war eigentlich ganz ideal, weil Greifswald mit ca. 50.000 Einwohnern eine überschaubare Größe hat, aber dank der Uni und den ca. 10.000 Studenten dennoch eine Menge los ist. Dass die großen Städte Berlin und Hamburg so weit weg sind führt dazu, dass vor Ort eine Menge unabhängiges Leben entsteht. Zudem ist die Ecke landschaftlich sehr schön. Die letzten fünf Schuljahre bin ich beispielsweise nie rechtzeitig zur Zeugnisübergabe gekommen, weil wir die Nacht vorher immer grillend und badend am Strand verbracht haben und dann morgens mit dem Rad zurück in Stadt gehetzt sind. Sowas geht dort gut und sorgt für Freiheitsgefühl.
Nun lebst du in Berlin. Was magst du an der Stadt und was weniger?
Ich mag an Berlin, dass die Stadt unfertig ist. Ich habe schon in diversen Städten wie Köln, Stuttgart und Frankfurt gelebt. Mein Herz schlägt aber eher für Städte wie Leipzig und Berlin, wo die Dinge nicht so saturiert, sondern stark im Umbruch sind. Da ergeben sich umso mehr Gestaltungsräume. Genau deshalb mag ich ja auch das Internet, weil es sich mitgestalten lässt und davon lebt. In Berlin passt das sehr gut zusammen und bei Orbanism werden wir genau diesen Raum zwischen Urbanität und Globalität weiter mit Leben füllen.
Du bist vor allem in der Buch- und Publishingbranche tätig. Wie bist du mit der Branche in Kontakt geraten?
Mein Großvater war Buchhändler alter Schule und wenn ich ihn besuchte, gab es immer ein Begrüßungsbuch mit Widmung aus dem Rosinenschrank. Er erzählte mir auch immer viel über die Struktur des Buchmarktes und die Buchwelt im Allgemeinen. So wurde mein Interesse geweckt. Das führte dann zum Verlagswirtschaftsstudium in Leipzig und von dort aus ging es direkt weiter in die Selbstständigkeit. Erst nur als Berater – man muss ja Geld verdienen –, wenig später auch als Blogger, dann mit eigenen Projekten, Lehraufträgen, Vorträgen, Veranstaltungen etc.
Bist du auch selbst ein „Bücherwurm“? Was liest du?
Ich lese vor allem Sachbücher, alles mit Geschichtsbezug und im Bereich der Literatur gern die Klassiker. Meine besondere Liebe gilt dabei Theodor Fontane …
… als ich auf deiner Homepage gestöbert habe, ist mir bereits aufgefallen, dass du Vorstandsmitglied der Theodor-Fontane-Gesellschaft bist. Wie kommt’s, dass du dich dort engagierst? Was fasziniert dich an Fontane?
Ich engagiere mich seit 2010 im Vorstand der Gesellschaft mit ihren über 1.000 Mitgliedern. Grundsätzlich sollte sich jeder irgendwo ehrenamtlich einbringen. Das mal als Erstes. Speziell bei Fontane finde ich sowohl sein Werk als auch sein Leben faszinierend. Wer seine Romane und Erzählungen liest, liest nicht nur große Literatur, sondern lernt auch sehr viel Zeitloses über Menschen, Gesellschaften und über die deutsche und europäische Geschichte. Dann gibt es da noch das Briefwerk, die Wanderungen, die autobiographischen Werke und vieles mehr. Das Gesellschaftsleben ist ebenso horizonterweiternd, weil es sowohl im Osten als auch im Westen eine intensive Fontane-Rezeption gab. Nach der Wende kam das alles in der Gesellschaft zusammen und mischt sich seitdem munter. Zudem geht es da nicht so elitär zu wie in anderen großen Literaturgesellschaften. Bei uns sitzt der Germanistik-Professor neben dem gelegentlichen Hobbyleser, weil Fontane die unterschiedlichsten Leute anzieht und begeistert. Das spiegelt sich wieder in den zahlreichen Städte-Sektionen und -Freundeskreisen, wo ständig Vortragsveranstaltungen zu den unterschiedlichsten Themen laufen.
Was inspiriert dich?
Ich liebe Freaks. Ich beobachte sie gern und ich verbringe gern Zeit mit ihnen. Da tun sich immer wieder fremde Welten auf und man lernt unendlich viel.
Was treibt dich an?
Eine Mischung aus Neugier und dem Bewusstsein, dass man im Leben öde Sachen machen muss, wenn man sich nicht vorab kümmert. Daneben treibt mich vor allem die Möglichkeit an, einen so krassen Wandel wie den durch das Internet und die Digitalisierung mitgestalten zu können. Wir sind alle Glückskinder der Geschichte.
Was wünschst du dir für die Zukunft?
Nichts. Geschenke nehme ich aber dankbar entgegen.
Wie definierst du Erfolg?
Erfolg ist das Erreichen selbstgesteckter Ziele. Das kann alles Mögliche sein und ist immer subjektiv. Ein zufriedener Eisverkäufer ist für mich erfolgreicher als ein unzufriedener Topbanker.
Was macht dich glücklich?
Es gibt ja dieses schöne chinesische Sprichwort:
„Willst du einen Tag lang glücklich sein, betrinke dich!
Willst du eine Woche lang glücklich sein, schlachte ein Schwein!
Willst du ein Jahr lang glücklich sein, heirate!
Willst du ein Leben lang glücklich sein, werde Gärtner!“
Für mich ist das, was ich mit meinen Projekten mache, wie gärtnern. Man pflanzt, es wächst heran und gedeiht, alles beeinflusst und befruchtet sich gegenseitig und am Ende blühen Menschen und Beziehungen auf. Das trägt ein großes Befriedigungspotenzial in sich. Allerdings möchte ich auch die anderen Dinge nie missen müssen.
Was ärgert dich maßlos?
Ungerechtigkeit, Schubladendenken, Intoleranz und unnötiges Alpha-Männchen-Gehabe. Menschen sollten Menschen lassen, wie sie sind, und sie stärker und nicht kleiner machen. Jeder für sich muss schon genug mit dem Leben kämpfen.
Hast du Vorbilder? Helden?
Helden habe ich keine. Das hat für mich etwas mit Überhöhung und Verklärung zu tun. Vorbilder sind für mich Menschen, die den Weg zu sich gefunden haben und damit bei allem, was sie tun, ein Original sind. Menschen, die wahrhaftig ihr Ding machen. Neben Kindern dürfte das der größte Glücksspender sein, wenn wir mit 80 zurückblicken und sagen können, dass wir ein uns gemäßes Leben gelebt haben.
Hast du ein Lieblingszitat oder gar ein Lebensmotto?
„So it goes.“ Vonnegut
Mehr Leander gibt es hier:
Website: http://orbanism.com
Website: http://leanderwattig.com
Facebook: https://www.facebook.com/leanderwattig
Twitter: https://twitter.com/leanderwattig
Snapchat: @leanderwattig
Das Interview führte Melanie Raabe.
Foto: Sebastian Mayer.
Rikje, 32, Hannover
„Den Blick auf das Gute wenden“
Rikje! Wenn ich versuche, mir dich als Kind vorzustellen, dann taucht vor meinem inneren Auge ein sehr cooles, sehr wildes kleines Mädchen auf, das auf die höchsten Bäume klettert und vor praktisch nichts Angst hat. Liege ich richtig? Wie war deine Kindheit?
Auha, nun kommt meine wahre Seite zum Vorschein. All diejenigen, die dachten, ich hätte bereits mit sieben Jahren Dreadlocks gehabt, da ich wild geknurrt habe, sobald meine Haare geschnitten oder gewaschen werden sollten, liegen leider falsch. Ich habe sogar, es fällt mir schwer das zu sagen, Matrosenkleidchen getragen, wenn es einen festlichen Anlass gab (jeder Mensch hat irgendwie ein Kindheitstrauma – danke Mama!). ABER: Deine Interpretation ist nicht ganz falsch. Meistens hat mich mein großer Bruder mitgenommen (von dem ich übrigens die alten Kleidungsstücke auftragen musste – das hat mich aber auch nicht sonderlich gestört um ehrlich zu sein), und dadurch kroch ich durch Matsch und Sand, versuchte mit meiner zarten Mädchenstimme grunzende und brutal klingende Geräusche nachzumachen und wurde eigentlich immer irgendwie geduldet. Mein großer Bruder hat mich aber überwiegend ohne Diskussionen im Schlepptau gehabt. Das hat sich ausgezahlt, dafür habe ich statt einer langweiligen Hochzeitsrede einen Text für ihn geschrieben, der die Geschichte des kleinen Zahnlücken-Cowboys auf der Suche nach der perfekten Frau erzählte. Aber die Jugend meines Bruders bot auch einfach das perfekte Futter für einen solchen Text.
Und wie war deine Jugend?
Oh, meine Jugend. Mein kleinster Bruder – ich habe noch zwei kleinere Halbbrüder – steckt mitten im kleinen Horrorladen namens „Pubertät“. Ich bin so unendlich dankbar, dass ich das hinter mich bringen durfte. Alles war peinlich. Selbst atmen in einigen Situationen. Ich war äußerst schüchtern, was Jungs betraf, in die ich „verknallt“ war. Kein Wunder, denn dadurch, dass ich nicht mehr atmete (die Nase könnte dabei ja komische Geräusche machen), sagte ich keinen Ton und rannte ziemlich schnell weg, um nicht zu ersticken. Somit war meine Jugend äußerst behütet – neben den üblichen Streitereien mit den peinlichen Eltern. (Wie sich das Blatt auch wendet: Heute bin ich ihnen eher peinlich – sehr witzig!) Also, Jugend-Rikje begann mit „Bravo“ lesen, in enge Hosen mit Schlag und übergroße Pullis gekleidet „Kelly Family“- und „Backstreet Boys“-Konzerte besuchend. (Jaja, lacht ihr alle). Mit fünfzehn oder sechzehn wurden es dann Hardcore- und Punk-Konzerte. Zum Glück, sonst wäre ich wohl heute noch Jungfrau.
Was wolltest du als Kind gerne werden, „wenn du mal groß bist“?
Da ich bei meinen Großeltern immer viel fernsehgucken durfte – ich bin die Tochter einer Pädagogin –, guckte ich auch viel die Fernsehserie „Quincy“. Damals war mir nicht klar, dass er Rechtsmediziner sein sollte, da er so viel im Gerichtssaal stand. Dadurch dachte ich immer, es wäre total aufregend Anwältin zu sein. Nun, Anwältin bin ich nicht geworden, scheint als hätte mein Verstand dann doch noch gesiegt.
Und was bist du geworden bzw. was wirst du?
Da mein Abi nicht den besten Schnitt hatte, war mir klar, dass das mit meinem Gedanken, „Tiermedizin“ zu studieren, schwierig werden könnte. Somit kombinierte ich knattertonartig und entschied mich dafür, eher ein Medizinstudium anzustreben. Zumindest war die Wartezeit etwas kürzer. Glücklicherweise war ich schlau genug zu wissen, dass ich bestimmt drei Jahre hätte warten müssen, und so begann ich eine Ausbildung zur examinierten Krankenschwester (heute: Gesundheits- und Krankenpflegerin). In meiner Ausbildung bemerkte ich die sehr dominierenden negativen Seiten des Medizinerlebens. Mein einer Lehrer in der Ausbildung brachte mich auf die Idee „Pflegewissenschaft“ und „Deutsch auf Sekundarstufe. II“ zu studieren. Bei diesem Studiengang war es damals noch möglich, mit zwei Abschlüssen abzuschließen. Und so habe ich mein erstes Staatsexamen auf Lehramt und zudem ein Diplom, das mich dazu berechtigt, in der Wissenschaft tätig zu sein. Somit habe ich beides für mich genutzt. Ich arbeite sowohl in einer Kranken- und Kinderkrankenpflegeschule an einer Universitätsklinik als Lehrerin sowie im Bereich der Versorgungsforschung im Bereich Palliativmedizin (Wissenschaftsstellen sind ja meist nur mit 50% Stellen ausgeschrieben – unfassbar!). Darin promoviere ich auch gerade, zumindest versuche ich es.

Bellabellinsky Photographie
Gemeinsam mit deinem Kumpel Mirco Buchwitz hast du zudem ein sehr cooles, sehr lustiges Buch geschrieben, das kürzlich bei Rowohlt erschienen ist („Arschbacken zusammenkneifen, Prinzessin“). Wie kam es dazu?
Danke für dieses Lob, das freut mich! In Kurzfassung: Mirco und ich hatten mal einen Abend zu tief ins Glas geguckt – ach was rede ich, wir waren rotzevoll. Ich erzählte ihm, dass mich diese typischen „frechen Frauenromane“ annerven, da sie den Ist-Stand nicht wirklich darstellen. Meistens sind dies Frauen Mitte Dreißig, die ihren Typen scheiße finden, da er sich zu wenig um sie kümmert bzw. ihre Hollywood-Erwartungen nicht erfüllt. Sie trennen sich dann von ihm, und dort beginnt dann die eigentliche Story. Auf dem Weg der Trauerverarbeitung fahren sie nach Sylt oder zu einem anderen übermäßig teuren Ziel, schmeißen die Kohle zum Fenster raus und finden dann letztlich den perfekten Typen, der mit ihnen Kinder zeugt. Wer sagt, dass eine Frau Anfang/Mitte dreißig unzufrieden sein muss, da sie keine Kinder hat bzw. keinen Typen, der mit ihr potentiell Kinder machen könnte? Wieso dürfen Frauen nicht auch mal ihr „Leben leben“, ohne gleich als „Schlampe“ zu wirken, da sie das machen, worauf sie Lust haben und nicht dem Rollenbild der Gesellschaft entsprechen (es gibt Frauen, die auch gerne Sex haben und das auch gerne leben)? Und überhaupt, wer hat dieses Rollenbild überhaupt erfunden? Männer sind die geilen Hengste und Frauen eben Schlampen. Das Schlimmste: Dieses Urteil treffen überwiegend die Frauen selbst über ihre gleichgeschlechtlichen Mitstreiterinnen. Und welche Frau Mitte dreißig hat bereits selbstständig so viel Geld verdient, dass sie einen schwulen Star-Friseur bezahlen, ein abbezahltes geiles Auto fahren und ihrem überzüchteten Hund „Evian“ zu saufen geben kann? Lustige Passagen haben diese Romane, das möchte ich nicht bestreiten. Doch können wir Frauen nicht auch anders sein, als das, was von uns erwartet wird? Somit kamen wir auf die Idee. Mirco hat irgendwann einfach angefangen zu schreiben, da er viel mehr Erfahrung darin hat als ich. Wir sprachen immer wieder über den Story-Verlauf, über Charaktere, und er ließ mir dann immer wieder die Kapitel zukommen, wozu ich dann noch Dinge hinzugefügt oder verändert habe, und am Ende kam dabei ein Buch raus.
Wird es noch mehr Bücher geben – von euch als Duo oder von dir alleine?
Sowohl als auch. Mirco ist bereits fleißig am Schreiben anderer Romane (ja, der Plural an dieser Stelle war vollkommen bewusst gewählt), und ich plane gerade ebenfalls noch einen Roman. Alles ist denkbar. Mal gucken, was die Zukunft für uns bereits hält.
Als ich dich gegoogelt habe, bin ich über ein Projekt namens Demenz-Poesie gestolpert. Das klingt irre spannend. Was hat es damit auf sich?
Ich werde nun mal etwas förmlicher, da es mir wichtig ist, dabei die Ernsthaftigkeit des Projektes darzustellen und zu zeigen, dass dahinter ein durchdachtes Konzept steckt: DemenzPoesie® ist eine Therapieform zur Gedächtnisrehabilitation von Menschen mit Demenzerkrankung. Meine Kollegin Pauline Füg (sie selbst ist Diplom-Psychologin und ebenfalls Bühnenautorin) und ich machen das zusammen. Das Gedächtnis wird dabei rehabilitiert, indem bestehende Ressourcen genutzt und gefördert werden. Bei DemenzPoesie® erfolgt dies anhand eines sehr lebendigen Vortrags von Gedichten, die die demenzkranken Teilnehmer noch aus Kindertagen kennen. Dadurch werden sie in einer Gruppensitzung – „Session“ genannt – interaktiv und kreativ an Sprache und Rhythmus herangeführt. Anhand von audiovisuellen, haptischen, taktilen und olfaktorischen Reizen werden Menschen mit Demenzerkrankung stimuliert, an ihrer Umwelt aktiv teilzuhaben. Die Förderung der eigenen Sprache, des Ausdrucks, der Wahrnehmung und des positiven Gruppengefühls werden dabei verfolgt. Zum Ende jeder Session wird gemeinsam mit den erkrankten Teilnehmern ein so genanntes Improvisationsgedicht erschaffen. Nachdem ich in New York hospitierte, wird anlehnend an das im Museum of Modern Art in New York seit 2009 durchgeführte Projekt “The MoMA‘s Alzheimer‘s Project” (gefördert vom US-Ministerium für Bildung [Department of Education]), seit 2013 das DemenzPoesie®-Projekt in der Form erweitert, dass die Sessions neben in Seniorenheimen auch in Museen vor Kunstgemälden und -gegenständen stattfinden. Dazu werden die Gemälde und anderen Kunstwerke gemeinsam mit dem demenzerkrankten Menschen betrachtet, besprochen und dazu passende Gedichte vorgetragen. Diese Umsetzung erfreut sich steigender Beliebtheit, und so wurden Sessions in unterschiedlichen Museen (Kunst-, Historische- und Heimatmuseen) in ganz Deutschland durchgeführt. Die Konzeption und Durchführung der DemenzPoesie®-Sitzungen geschah in enger Zusammenarbeit mit dem Erfinder: Der amerikanische Poet Gary Glazner rief 2004 das Alzheimer‘s Poetry Project ins Leben.
Du hast auch noch in anderer Hinsicht mit Poetry zu tun: Du trittst bei Poetry Slams auf! Chapeau! Ich finde den Gedanken, bei einem Poetry Slam mitzumachen, in etwa so verlockend wie ein Date mit einem hungrigen Grizzly. Seit wann machst du das und was reizt dich am gesprochenen Wort?
Mit Poetry Slam wurde ich bereits 2004 in meinem Studium konfrontiert. Daraufhin fing ich an, öfter als Gast dort anwesend zu sein. Damals waren die Zuschauerräume noch übersichtlich gefüllt, und die Texte waren experimentell. Sehr spannend, teilweise etwas merkwürdig, aber individuell und angenehm fern vom Mainstream. Ich selbst hatte mich aber nie getraut, dort aufzutreten, obwohl es mich immer gereizt hat. Da ich mir 2009/2010 zum Jahreswechsel vorgenommen hatte, mich Herausforderungen zu stellen, die ich bis dato nicht durchgezogen hatte, kam es dann am 18.02.2010 zu meinem ersten Poetry-Slam-Auftritt in Hannover. Für zwei Jahre war ich dann, so wie es mein Arbeitspensum zuließ, auf einigen Poetry Slams und Lesebühnen unterwegs. Nach einer Zeit bemerkte ich auf den Slams eine Veränderung für mich, die mir selbst nicht mehr so gefiel. Es galt nur noch, den lustigsten Text mit der besten Performance zu haben und nicht mehr, sich auf schriftstellerischer Ebene auszuprobieren und neues zu probieren. Deine Aussage „ein Date mit einem hungrigen Grizzly zu haben“ trifft es meiner Meinung nach. Es hatte mich auch irgendwann so sehr blockiert, dass ich beim Schreiben darüber nachdachte, ob es denn beim Publikum „ankommen würde“, anstatt diese Geschichte nach meinen Ideen und Gedanken zu verfassen. Somit bin ich nicht mehr auf Slams unterwegs, denn das Format passt nicht mehr zu mir. Es gibt viele Menschen, die sind hervorragende Slammer und die bewundere ich dabei. Ich selbst hätte Lust, eine hervorragende Schriftstellerin zu werden, aber diesen Wunsch haben ja viele. Somit schreibe ich weiterhin für mich, habe Spaß dabei, und wer weiß, vielleicht darf ich irgendwann damit meinen Lebensunterhalt verdienen. Das wäre ein Lebenswunsch. Drückt mir die Daumen!

Bellabellinsky Photographie
Die Daumen sind gedrückt. Welche Poetry Slammer sind es denn, die du bewunderst?
Pauline Füg – sie ist schon ewig dabei, hat einen eigenen Stil kreiert – der leider zu viel kopiert wurde – und kämpft sich mit ihren sehr guten lyrischen Texten (echte Lyrik, keine Hausfrauenlyrik) weiterhin auf den Bühnen durch, obwohl Personen aus dem Publikum anfangen, laut zu reden oder gar laut zu rülpsen. Schade! Sehr schade!
Und wen liest du? Wer sind deine Lieblingsautoren?
Ehrlich gesagt lese ich beruflich bedingt viel Fachliteratur und wenig Romane. Ich dürfte dies zwar nicht zugeben, aber ich oute mich jetzt hier. Ansonsten liebe ich Roald Dahl und Jonathan Safran Foer. Mirco Buchwitz schreibt auch in einer faszinierenden, individuellen Art, was ich unabhängig von unserer Zusammenarbeit hier mal erwähnen möchte.
Für wen – egal ob berühmt oder nicht, ob Mann oder Frau, lebendig oder tot, real oder fiktiv – schwärmst du?
Puh, früher hätte ich was von Johnny Depp erzählt, aber irgendwie wird der immer unspektakulärer, seit er in einer Art Midlife-Crisis steckt. Irgendwie habe ich aufgehört zu schwärmen. Wenn ich mir aber mal eine Person aussuchen dürfte, mit der ich eine Kneipentour machen möchte, dann sage ich selbstbewusst „Carolin Kebekus“. Obwohl sie unser Horbüch eingelesen hat, hatte ich leider nicht das Vergnügen, sie selbst kennen lernen zu dürfen. Ich denke aber, wir hätten gemeinsam verdammt viel Spaß.
Was ist das Schönste, das dir jemals passiert ist?
Ich war mal für vier Monate in Australien, aber bevor ich das machte, fragte ich mich, ob es denn so eine gute Idee sei, die ganzen Ersparnisse dafür zu verbraten und ganz allein mit mindermäßigen Englischkenntnissen dahin zu fliegen. (Meine Mutter ist Englisch-Lehrerin, ich denke jedem ist nun klar, welches mein schlechtestes Schulfach war). Ich war bereits im Studium und arbeitete nebenher auf einer Station als Krankenschwester. Ich war zum Spätdienst eingeteilt und ein Mann klingelte, sodass ich sein Zimmer aufsuchte. Er selbst war an Morbus Parkinson erkrankt und wollte vom Badezimmer zurück in sein Bett begleitet werden. Menschen mit Parkinson können einen so genannten Stupor bekommen. Sie können zwar klar denken, aber der Körper führt keine Bewegungen mehr aus, und sie verfallen in eine Art „Starre“. Er entschuldigte sich und sagte, dass er einen Moment brauche, bis er sich wieder bewegen könne. Ich verdeutlichte ihm, er solle sich die Zeit nehmen, die er brauche, und ich wäre jetzt nur für ihn da. Er erzählte mir, er habe früher viel gearbeitet, hätte eine eigene Gärtnerei gehabt und viel Geld damit verdient. Immer hätte er sich gesagt, er wollte auf Reisen gehen, wenn er in Rente sei. Mit seinem Rentenbescheid kam jedoch fast zeitgleich seine Diagnosestellung, weswegen er nichts von der Welt gesehen habe. Er klopfte mir auf die Schulter, sah mich an und meinte mit einer tiefen Weisheit in seinen Augen: „Mädchen, was immer Sie tun, tun Sie es jetzt.“
Nach meiner Schicht fuhr ich nach Hause und buchte sofort meinen Flug. Mein Australienaufenthalt im Jahr 2008 war mit das Beste, das ich in meinem Leben bisher getan habe. Ich sehe diesen Herrn als eine Art Erfüllungsgehilfen für einen absolut wichtigen Teil meines Lebens an. Durch ihn habe ich gelernt, dass ich keine Konjunktive in meinen Erzählungen finden möchte, da ich es getan und nicht „immer nur drüber nachgedacht“ habe. Ich konnte es ihm nie mitteilen, doch hoffe ich, dass er es spüren konnte.
Was ist das Schlimmste, das dir jemals passiert ist?
Meine Schulzeit in Verbindung mit meiner Pubertät – die Hölle!
Welches ist die wichtigste Lektion, die du bisher gelernt hast?
Sei dankbar!
Was inspiriert dich?
Das Leben. Dazu muss ich viel reisen und viel erleben. Ich kann nur selten stillsitzen, da ich mich sonst langweile. Sonnenbaden beispielsweise wäre für mich eine Foltermethode!
Hast du Vorbilder?
Die Erfinder von „Dschungel-Camp“. Eine unglaublich geniale Idee, die die Menschen (vor allem die Akademiker, wie es ja immer gesagt wird) vor den Fernseher zieht ,um irgendwelche „Promis“ dabei zuzugucken, wie sie ekelige Sachen machen und essen müssen. Grandios! Die haben sich zu Recht eine goldene Nase verdient. Immer wieder frage ich mich: „Verdammt, wieso hattest du nicht einen so genieartigen Gedanken?“
Was macht dich glücklich?
Reisen, meine Familie, meine Freunde, Menschen treffen, viel reden – manchmal zu viel –, Essen, Bier, gute Filme, stumpfe TV-Shows (Bauer sucht Frau ist bei mir auch ganz weit oben), Fleisch und Wurst, Käse und Quark, Marmelade, Gartenarbeit, kochen, PC-Spiele spielen… Manchmal auch schreiben (an alle nicht Autoren: das kann verdammt harte Arbeit sein!).
Was ist der Sinn des Lebens?
Die Erfindung von kalorienarmer Schokolade bei gleicher Geschmacksintensität!
Ernsthaft: Mein Sinn liegt darin, den Blick auf das Gute zu wenden, auch wenn das Schlechte Oberhand gewinnt. Sonst gibt es irgendwann nur noch Psychiatrie-Blöcke, die wir als unsere Wohnadresse angeben.
Das Interview führte Melanie Raabe.
Bea, 37, Köln
„Ich bin ein Kämpfer und gebe nicht auf“
Bea! Du lebst in Köln. Wo bist du geboren?
Sozusagen „In einem Land vor unserer Zeit“, nämlich 1977 in der DDR, genauer gesagt in Dessau. Ich bin also in zwei Ländern aufgewachsen. Bis zu meinem zwölften Lebensjahr in der DDR und dann in der BRD. Geprägt hat mich beides. Heute denke ich manchmal, wie verrückt und aufregend es doch ist, ein winziger Teil unserer Geschichte zu sein. Mir fallen dann meine Oma ein und ihre Erzählungen. Sie hatte in ihrem Leben auch drei Währungsreformen erlebt, genau wie ich.
Du arbeitest als Schauspielerin und Regisseurin. Wie bist du zum Theater gekommen?
Das Theaterblut fließt seit Generationen in den Adern meiner Familie. Urgroßvater Opernsänger, Großeltern Opernsänger, Vater Schauspieler… Naja, da war ich für jeden anderen Beruf verdorben. Ich bin schon als kleines Kind im Dessauer Theater auf der Bühne rumgesprungen, da ich dort im Chor gesungen habe. Es war eine tolle Kindheit, denn das Theater war für mich wie ein riesiger Abenteuerspielplatz, und so kam ich mir zwischen all den Kulissen und Kostümen wie Alice im Wunderland vor. Leider habe ich nie mit meinem Vater zusammen auf der Bühne gestanden, denn er starb als ich 10 war. Ab diesem Moment war der Wunsch, selber Schauspielerin zu werden und in seine Fußstapfen zu treten, noch größer. Der Beruf ist immer noch meine Verbindung zu ihm, und dadurch, dass ich seinen Künstlernamen angenommen habe, habe ich das Gefühl, sein Andenken zu bewahren.
Was würdest du machen, wenn du nicht am Theater gelandet wärst?
Zum Glück (oder leider?) gab es nie eine Alternative. Als es nach dem Abitur drei Jahre lang nicht mit einem Studienplatz für Schauspiel geklappt hat, begann ich für vier Semester Design am Bauhaus zu studieren. Glücklicherweise kam dann die „Erlösung“ durch den Ausbildungsplatz am Theater der Keller. Ich glaube, für jeden anderen Beruf fehlt mir das Talent.
Du hast also schließlich an der Schauspielschule des Theaters der Keller studiert. Wie war die Zeit dort?
Sie war der letzte Versuch nach drei erfolglosen Jahren des Vorsprechens. Ich weiß noch genau, dass ich den Nachtzug von Dessau nach Köln gar nicht nehmen wollte und mich erst in letzer Sekunde dazu aufraffen konnte, doch zu fahren. Als der Zug dann morgens um 7 Uhr über die Hohenzollernbrücke rollte, war ein wunderschöner Regenbogen über der Stadt zu sehen und ich wußte: „Das wird mein Tag.“ Wenn ich so zurückschaue, ist es gut, dass ich lange darum kämpfen musste, Schauspielerin werden zu dürfen. Ich habe mich dadurch auch geprüft und weiß, dass ich nie etwas anderes machen möchte, auch wenn es immer mal Rückschläge gibt. In der Schauspielschule habe ich eine richtige Wandlung durchgemacht, innerlich wie äußerlich, denn ich war anfangs extrem schüchtern und unscheinbar. Großartig war, dass man schon während der Ausbildung am „Keller“ spielen durfte und dadurch das Erlernte nicht im sterilen Klassenraum blieb, sondern sein Publikum fand. So war ich auf das Berufsleben da „draußen“ gut vorbereitet. Und ich hatte wunderbare Lehrer. Herbert Wandschneider zum Beispiel, bei dem ich mich ohne Angst in „Gombrichs Geschichte(n)“ freispielen und ausprobieren konnte.
Was würdest du jungen Schauspielerinnen raten?
Der Beruf ist hart, besonders für Frauen. Prüfe dich, ob du es wirklich willst, mit allen Konsequenzen. Und wenn du es wirklich von Herzen willst, dann mach es mit deinem ganzen Herzen.
Was liebst du an deinem Job?
Das Unerwartete, das Lampenfieber, die Kreativität, die Energie, und die Erleichterung und Freude nach einer gelungenen Premiere.
Und was weniger?
Es ist ein sehr unsicherer und manchmal auch unfairer Beruf. Oft entscheidet nur der „Typ“ und nicht die Leistung.
Ist Köln ein guter Ort für Theaterleute?
Es ist sicherlich ein guter Ort um gleichgesinnte, kreative Leute kennenzulernen und sich auszutauschen oder gegenseitig zu inspirieren. An den äußeren Bedingungen in der freien Szene ließe sich aber noch so einiges optimieren. Als freies Ensemble wie es das „Theater Skurreal Noir“ ist, muss man sich für ziemlich viel Geld in einer Spielstätte einmieten und trägt ganz allein das Risiko. Bekämen diese freien Spielstätten Zuschüsse, müssten sie keine so hohen Mieten nehmen, und es würden sicher noch mehr Stücke in Eigeninitiative produziert. Köln könnte in dieser Hinsicht also noch um einiges bunter sein. Obwohl die freie Szene in Köln auch jetzt schon beachtlich ist.
Welches ist deine Traumrolle? Hast du sie schon gespielt?
Ich mag es, Figuren mit Ecken und Kanten zu spielen. Eine Traumrolle selber gibt es nicht. Meist „verliebe“ ich mich in die Rolle, die ich gerade spiele, und versuche ihr Leben einzuhauchen.
Du hast mit einer tollen, unglaublich detailverliebten Inszenierung von „Was geschah wirklich mit Baby Jane?“ dein Regiedebüt gegeben. Was hat dich gereizt an diesem Stoff?
Danke. Ja, es war wirklich mein erstes eigenes „Baby“ und ist eigentlich aus der Not heraus geboren. 2013 war für mich ein schwieriges Jahr, viele Vorsprechen, viele Absagen, viele Selbstzweifel. Eines abends im Mai kam dieser großartige Film im Fernsehen. Ich liebe ihn schon seit meiner Kindheit und bleibe jedesmal davor hängen, wenn er läuft. Doch diesmal traf es mich wie ein Blitz und ich dachte: „Den Stoff muss ich auf die Bühne bringen“. Es ist eine makabere und düstere Geschichte mit abgründigem schwarzen Humor. Genau das, was ich liebe. Ab diesem Moment spürte ich eine enorme innere Kraft, die mich bis zur Premiere angetrieben hat. In relativ kurzer Zeit habe ich eine Bühnenfassung geschrieben, das Stück besetzt (denn die Schauspieler hatte ich bereits beim Schreiben vor Augen), das Bühnenbild entworfen und dann losgeprobt. Ich hätte mir das vorher nie zugetraut und ich habe auch einige damit überrascht. Vor allem mich selbst.
Wie ist das Projekt gelaufen? Und planst du, erneut als Regisseurin zu arbeiten?
Trotz aller Anfängerfehler, die ich gemacht habe, und um die ich auch weiß, bin ich stolz auf unser „Baby“. Ich sage ganz bewußt „unser“, denn es ist eine wirkliche Gemeinschaftsarbeit zwischen den Schauspielern und mir gewesen. Gerade Gisela Nohl, die als „Jane“ das Stück tragen musste, hat sich ohne zu zögern ganz der Rolle geöffnet und eine vielschichtige Figur erschaffen. Und mit Uta-Maria Schütze stand meine ehemalige Schauspiellehrerin als Blanche an ihrer Seite. Ich bin sehr dankbar, dass sie dieses Experiment mit mir gewagt hat. Sonia Fontana hat als Hausmädchen alle spanischen Texte beigesteuert und ganz nebenbei noch die Choreografie gezaubert. Es ist also das Ergebnis vieler fleißiger und selbstloser Menschen, die wie ich an die Sache geglaubt haben. Und wir wurden auch mit viel positivem Feedback belohnt. Eigentlich sollte das Stück auch ab Januar 2015 wieder laufen, aber leider ereilte mich im Oktober ein Anruf aus Amerika, und nun dürfen wir aus rechtlichen Gründen das Stück nicht mehr spielen. Das ist sehr bitter und ein herber Schlag, denn wir wollten alle unbedingt und mit Freude weiterspielen. Nun machen sich Entsetzen und Enttäuschung breit. Bevor der Anruf kam, begann sich in meinem Kopf schon das nächste Projekt zu formen. Ich spiele mit dem Gedanken, „Psycho“ auf die Bühne zu bringen. Bilder und Besetzung habe ich schon vor Augen und Lust wieder zu schreiben auch. Aber die Lähmung nach dem „Baby Jane“-Schock ist noch da. Aber ich bin ein Kämpfer und gebe nicht auf. Irgendwann muss die Energie wieder sprudeln, sonst platze ich.
Hast du Vorbilder?
Schon lange bewundere und verehre ich Judi Dench und Imelda Staunton. Zwei Ausnahmeschauspielerinnen.
Was macht dich glücklich?
Es sind die kleinen Dinge, die mich innerlich lächeln lassen. Mein Kater schnurrend auf meinem Schoß, ein schöner Abend mit Freunden, Besuche in der Heimat, ein Stück Schokolade langsam auf der Zunge zergehen zu lassen, lange Spaziergänge, ein guter Film. Es gibt so vieles.
Was inspiriert dich?
Andere Menschen und Kulturen. Musik.
Hast du ein Lebensmotto?
Gib niemals auf. Und gib jedem Tag die Chance, der schönste deines Lebens zu werden.
Was ist das Interessanteste, das dir je passiert ist?
Das für mich wichtigste Erlebnis war der Mauerfall. Ohne den wäre ich jetzt nicht in Köln und vieles wäre anders.
Das Interview führte Melanie Raabe.
Richard, 42, Freising
„I’m not there“
Wie würdest du deine Kindheit und Jugend beschreiben?
Ein trostloser fragmentarischer Ablauf, eher einer Skizze ähnlich als dem Leben. Mein Vater war dem Alkohol nicht gerade abgeneigt. Sämtliche Verwandte und Bekannte erschienen mir merkwürdig. Eigenartige, verschrobene Gestalten, sehr konservativ. Ein immerzu herbstliches Landleben, alles immer unter Zwang. Bei uns wurden keine Bücher gelesen, der kulturelle Einfluss war nicht vorhanden. Hier wurde körperlich gearbeitet, nicht gelesen. Arbeit war überaus wichtig, eigentlich das Wichtigste überhaupt. Niemand wäre auf die Idee gekommen, ein Kind studieren zu lassen oder vorhandene Möglichkeiten auszuschöpfen. So war die Kindheit eine Melange aus Alpträumen und Schattengestalten, eigentlich stetigen Regentagen. Im Rückblick ein hässliches Tim-Burton-Szenario. Alles schief, vom Wind davon getragen. Nachts klopften die Gespenster an das Fenster, daran kann ich mich erinnern. Nicht symbolisch, sondern tatsächlich. Jene Gespenster aus dem Bauch.
Natürlich wollte ich diesem Leben entfliehen. Zur Anpassung neigte ich nie. Als Kind jedoch gibt es für eine Flucht nur wenige Möglichkeiten. Man setzt sich diesbezüglich auch mit dem Sterben auseinander. Dem Suizid, sozusagen. Und wenn man als Kind diesem Gedanken nahe kommt, blickt man in einen Abgrund und stellt relativ früh fest, wie lächerlich alles ist. Jeglicher Zwang. Als Jugendlicher musste ich mich in einigen Berufen versuchen. Das wollten meine Eltern so. Denn, wie gesagt, die Arbeit war das höchste Gut. Körperliche Arbeit, wohlgemerkt.
Leider verliert man dadurch eine Menge Zeit, zahlreiche Möglichkeiten. Die Wege sind vorbestimmt, und das Ausbrechen ein waghalsiges Unternehmen. Erst zu dieser Zeit fing ich an zu lesen. Mein Plan danach war eigentlich einfach: Bücher schreiben, um Zeit für das Leben zu gewinnen. Ich versuchte mich als Journalist im lokalen Bereich. Leider hat nichts davon tatsächlich funktioniert. Ein wenig später dann erlernte ich, eher aus Zufall und Hoffnungslosigkeit, den Beruf der Krankenpflege. Warum? Vermutlich weil die Arbeit am Menschen ebenso abseitig ist wie meine Träume, Leben und Sterben ganz nahe. Neue Reibungspunkte entstanden, da ich schwer, eigentlich kaum mit Hierarchien umgehen kann und will. Vielleicht reanimiere ich deshalb täglich das Kind in mir. Um die Gespenster zu vertreiben.
Du bist Autor. (Und zwar ein guter. Ich wünsche dir Ruhm und Ehre und all das.) Wann und unter welchen Umständen hast du mit dem Schreiben begonnen?
Wie schon erwähnt, begann das Schreiben eher als Befreiungsschlag. Der nicht glückte, aber dennoch einen Impuls freisetzte. Anfänglich als Imitation anderer Autoren. Es entstanden vorwiegend Kurzgeschichten. Man weiß ja, dass man in Deutschland mit Kurzgeschichten keinen Blumentopf gewinnen kann (was ich nach wie vor als äußerst merkwürdig empfinde), sie gelten als vergebene Mühe, als belanglose Fingerübung. Es zählt der Roman. Für längere Erzählungen fehlte mir später dann aber schlichtweg die Zeit. Vor allem Schichtdienst ist ja der Tod aller Kunst.
Dennoch hielt ich regelmässig Lesungen ab und schrieb Bühnen-Programme für mich selbst. Fragmentarische Szenenbilder. Meist mit Musikern, die dann die Texte untermalten. Gastierte in Buchhandlungen, auf kleinen Theater-Bühnen. Das fiel natürlich nicht sonderlich auf. Oft las ich nur für eine Handvoll Zuhörer. Wenn ich darüber nachdenke, hat sich das eigentlich nicht sonderlich geändert.
Dein Buch „Amerika Plakate“ ist bei einem kleinen, feinen Verlag erschienen und hat sehr gute Rezensionen bekommen. Worum geht es in dem Buch?
Verlust, Schuld und Erlösung. Liebe. Jene Themen, die unser Leben beeinflussen wie kaum andere. Aber auch das implizierte Thema, dass nichts vorhersehbar ist. Dass manche Wege unpassierbar sind und manche nur dunkel. Ich schätze Geschichten, die nicht klar verlaufen, die sich immer ein Geheimnis bewahren. Wir kennen immer weniger solche Erzählungen, leider. Heutzutage ist vieles glattgeschliffen, von jeglicher Nebenhandlung befreit. Eine phantastische Geschichte, magisch im besten Sinne von verrückt. Vermutlich nicht allzu einfach, aber das ist nicht sonderlich wichtig. Darf man das sagen? Vermutlich nicht, denn was nicht marktgängig ist, ist automatisch merkwürdig. Verschroben. Ich bin allerdings gern verschroben, muss ich zugeben. Schweifen wir diesbezüglich kurz ab: Schauen wir uns einmal einen Jim Jarmusch Film an. Nehmen wir Night on Earth. Ein wundervoller Film, den ich vermissen würde. Aber natürlich ein extrem verschrobener Film, nicht wahr? Aber dennoch erscheint mir dieser Film wichtiger als der Mittwochs-ARD-Abendfilm. In der Literatur jedoch erleben wir gerade jenes: Alles was merkwürdig ist, geht nicht oder bestenfalls sehr schwer. Das ängstigt mich zunehmend.
Die zugrunde liegende Kurzgeschichte mit dem gleichen Titel kann man sich – sehr schön gelesen von Katharina Wackernagel – anhören. Wie kam es zu dieser Zusammenarbeit?
An einem Winterabend sah ich mir eine Folge der wundervollen Serie „Bloch“ mit Dieter Pfaff an, Katharina Wackernagel spielt seine Tochter. Und ich fragte mich, wie es wohl sei, wenn sie „Amerika Plakate“ lesen würde. Am nächsten Tag schrieb ich ihre Agentur an. Die Kurzgeschichte gefiel Katharina auf Anhieb und so einigten wir uns relativ schnell. Letztendlich natürlich völlig absurd. Es gab weder ein Buch, geschweige denn einen Roman. Nur eine Kurzgeschichte von einem unbekannten Autor. Aber solche Dinge gefallen mir. Später dann wurde diese Aufnahme vom WDR ausgestrahlt, was mich sehr gefreut hat. Grundsätzlich hätte ich gern diese Aufnahme dem Buch beigelegt, was sich allerdings als zu kostspielig herausgestellt hat.
Was bedeutet dir das Schreiben?
Wir alle haben einen Traum. Suchen das versteckte Schlupfloch des Lebens. Um uns selbst Geschichten zu erzählen, wenn die Ostwinde zu kalt werden. Es ist tatsächlich eine schwere Frage, genau betrachtet. Warum tun wir Dinge? Was bedeuten sie? Weshalb lieben wir, weshalb hassen wir? Vermutlich tut man etwas, um Dinge zu verändern. Andere Wege gehen zu können. Mir würde das gefallen – was sich jedoch als unglaublich schwer herausstellt. Schwerer als jemals gedacht. Vermutlich schreibe ich auch, um die Gespenster der Vergangenheit in mir zu unterhalten, um sie zu besänftigen. Um dem Außenseiter in mir eine Gestalt zu geben, einen Namen. Mich zu solidarisieren mit den Verlorenen, den Zerbrochenen. Von ihnen zu erzählen. Vielleicht auch nur, um die Welt zu verstehen.
Was liest du?
Diese Frage ist relativ schwer zu beantworten, weil es lange dauern würde, sie befriedigend zu beantworten. Paul Auster schätze ich ungemein. Friedrich Ani ist meiner Meinung nach einer der besten deutschen Erzähler der Gegenwart. Seine Tabor-Süden-Romane glänzen. Ray Bradbury, Truman Capote, Harper Lee, Stephen King, Joe Hill, Neil Gaiman (zu lange unterschätzt), Friedrich Dürrenmatt, George Simenon, Richard Brautigan (völlig verkannt), Hunter S. Thompson, Charles Bukowski (unbedingt die Maro-Ausgaben kaufen!), Cornell Woolrich. Vor allem mag ich Bücher, die mich überraschen. Die ich vielleicht sogar nicht einmal beim ersten Lesen verstehe. So ging es mir bei Brautigans „Forellenfischen in Amerika“, aber dennoch liebe ich dieses Buch. Und ich liebe das Geheimnis, das darin steckt. Ich möchte nicht beiläufig unterhalten werden, denn dafür kann ich ja auch einen Fernsehkrimi ansehen. Ein Buch muss mich schlaflos machen – egal auf welche Art und Weise. „Shining“ von Stephen King gelingt das anders als Harper Lee.
Was machst du, wenn du nicht schreibst? Hast du einen day job? Was hast du gelernt oder studiert?
Momentan schreibe ich ausschließlich. Vermutlich wird das nicht mehr lange so sein, und ich werde wieder im Pflegeberuf arbeiten müssen. Denn schließlich haben wir nur ein Leben und das kann man nicht mit Warten verbringen. Vor allem braucht man ja auch ein wenig Geld. Ich arbeite gerne mit Schwerkranken, mit Sterbenden. Zuletzt habe ich auf einer Onkologie gearbeitet. Gefallen würde mir aber auch eine Tätigkeit in einer Psychiatrie. Natürlich wäre ich gerne Schriftsteller, würde damit gern ein wenig Geld verdienen. Momentan aber scheint mir dieses Unterfangen relativ aussichtlos. Folge-Publikationen sind nicht in Sicht, wenngleich auch „Amerika Plakate“ sehr positiv aufgenommen wurde. Ich hoffe immer und bete, aber der Himmel bleibt düster. Ein scheußliches Gefühl, vor allem weil ich ja nicht aus der Literatur-Branche komme. Es nicht studiert habe und deshalb auch nicht in diese Richtung arbeiten kann. Letztendlich bin ich ein Arbeiterkind, das gehofft hatte.
Gibt es noch andere Kunstformen neben der Literatur, die dich interessieren?
Meine Geschichten sind immer beeinflusst von Musik und Film. Gerade bei „Amerika Plakate“ ist das sehr deutlich zu erkennen. Ich spiele ein wenig Gitarre. Manchmal male ich, aber nicht sehr gut.
Was würdest du dir von der berühmten guten Fee wünschen?
Würde. Dass wir in Würde leben können. Und in Würde sterben dürfen.
Hast du Vorbilder? Helden?
Literarische Vorbilder sicherlich. Paul Auster und die merkwürdigen Gestalten, abseits vom Mainstream. Im Leben sicherlich Menschen wie die Geschwister Scholl. Aufrechte, unbequeme Leute.
Was inspiriert dich?
Abseitige Geschehnisse. Merkwürdige Bücher, eigenartige Filme. Tom Waits‘ Songs. Obdachlose, taumelnd auf einer Straße, die mich nach Gott fragen und ob es Jesus tatsächlich gibt. Lebensfragmente, alles unfertige. Zerbrochene Dinge inspirieren mich.
Was macht dich glücklich?
Bei Menschen zu sein, dich ich mag, schätze oder/und liebe. Glücklich macht mich auch jener zeitweise Hauch der Möglichkeit, das zu tun, was man möchte. Woran man glaubt. Einfache Dinge. Kaffee und Zigaretten. Ein guter Film. Ein gutes Buch. Charlie Parkers Musik um Mitternacht.
Hast du ein Lebensmotto?
I´m not there.
Oder ein Lieblingszitat?
No Direction Home.
Was ist der Sinn des Lebens?
Dass manchmal selbst der Präsident nackt dastehen muss. Sagt jedensfalls Bob Dylan.
Das Interview führte Melanie Raabe.
Foto: Deliah Lorenz.
Annette, „39, mal wieder“, Köln
„Wahre Liebe lässt los“
Liebe Annette! Du machst so viele unterschiedliche und spannende Dinge. Wenn dich ein Fremder fragt, „was du beruflich machst“ – was antwortest du?
Am Liebsten sage ich: ICH BIN ICH … was auch immer das in dem Moment bedeuten mag. Ich habe so viele Berufe, dass ich manchmal denke, die Leute sind überfordert, wenn ich die alle aufzähle. Also wähle ich immer einen oder zwei aus, je nach Situation, aber ich kann ja mal den Versuch einer Aufzählung machen: Zigarenmanufactrice – das Wort hab ich selbst kreiert – Zigarrenrollerin, Autorin, Sängerin, Dolmetscherin, Künstleragentin, Eventmanagerin, Regisseurin …
Wie schöpfst du die Energie für all deine Projekte?
Ich hab sehr viel Energie von Natur aus. Und wenn ich Menschen begeistern kann, bekomme ich jede Menge zurück. Und wenn die Speicher mal leer laufen, gehe ich in die Natur oder singe.
Wo kommst du her und wie bist du aufgewachsen?
Ich komme aus einer Provinzhauptstadt in Südbaden namens Rheinfelden. Dort bin ich geboren, am südlichen Rande des Schwarzwaldes.
Du reist offensichtlich gerne und viel. Welches war dein schönstes oder interessantestes Erlebnis auf Reisen?
Als afrikanische Voodookünstler, die ich produziert und getourt habe, auf dem Marktplatz eines Dorfes in den Anden Glas zerkaut und runtergeschluckt haben, um den Indios, die noch nie schwarze Menschen gesehen hatten, ein Stück ihrer religiösen Kultur zu zeigen.
Welches ist der interessanteste Mensch, dem du je begegnet bist?
Ahmet Ertegün, der Gründer von Atlantic Records, New York, den ich zwei Jahre vor seinem Tod in Bodrum kennengelernt habe. Er hat mit den Rolling Stones, Led Zeppelin, Aretha Franklin und endlos vielen weltberühmten Musikern gearbeitet. Es war ein gegenseitiges „Sich-Erkennen“ von zwei Persönlichkeiten, als wir uns begegneten, eine Art „platonische Liebe auf den ersten Blick“.
Du bist Besitzerin einer Kölner Zigarrenbar. Wie kamst du auf die Idee? Erzähl doch ein bisschen von deinem Laden.
Das ist keine Zigarrenbar, sondern eine Zigarrenmanufaktur mit Laden und kleinem Salon, in dem wir Seminare abhalten. Die Zigarren sind mir zugeflogen wie ein verirrter Papagei. Ich liebe Kuba, die kubanische Musik und Kultur. Ich habe viele Tourneen kubanischer Künstler organisiert und irgendwann begann ich die „Kunst des Zigarrenrollens“ auf Events zu zeigen, also so eine Art mobile Zigarrenmanufaktur und eh ich mich versah, hatte ich meine eigene Zigarrenmanufaktur – ein Stück Kuba in Köln …
Zudem bist du Autorin. Was hat es mit deinem Buch auf sich? Was steht drin und warum hast du es geschrieben?
Ich erzähle von einem Liebesexperiment, das ich durchgeführt habe. Fünf Männer, fünf Beziehungen parallel wollte ich haben, und das ganz offen und ehrlich. Ich wollte mal was ganz Neues ausprobieren, ausbrechen aus den Konventionen unserer Vorstellung von Partnerschaft. Ich erzähle heiße Stories aus dem Nähkästchen, es geht um Sex, Eifersucht, wilde Experimente und die Sehnsucht nach Liebe. Das Buch hat in der Presse einige Wellen geschlagen, ich war bei vielen Talkshows zu Gast, u.a. bei Markus Lanz, bei Plasberg oder in Backes’ Nachtcafé und erntete nicht wenig pikierte Blicke der Männerwelt.
Du stehst auch immer mal wieder auf der Bühne. Was bedeutet es dir, vor Publikum zu stehen?
Ich liebe die Bühne, ich liebe es, meine innere Rampensau rauszulassen. Wenn ich dann noch Rückmeldungen bekomme, dass ich irgendwas in den Menschen bewege durch meine Musik oder meine Texte, dann bin ich glücklich!
Oh ja und wie! Aber ich glaube, das gehört zu einer guten Performance dazu.
Welches ist die wichtigste Lektion, die du bisher gelernt hast im Leben?
Die wahre Kraft und das Glück liegt in Dir. Und in jeder Katastrophe, auch wenn du es erst nicht glauben kannst, ist irgendwo ein Geschenk versteckt.
Hast du ein Lebensmotto oder eine Lebensphilosophie?
Wahre Liebe lässt los.
Was inspiriert dich?
Städte wie Istanbul oder Paris. Am Liebsten sitze ich in Straßencafés und lasse das Leben an mir vorbeiziehen.
Was macht dich glücklich?
Musik. Sex. Sonne.
Gibt es etwas – eine Veranstaltung, ein Buch, eine Homepage – die oder das du gerne promoten würdest? Das ist die Gelegenheit!
Ab 24.10. trete ich mit meiner Show zum Buch „Fünf Männer für mich“ im Kölner Arkadastheater – Bühne der Kulturen auf, (Spieldaten: 24.10 / 30.10. / 11.11. / 18.11. / 11.12. / 23.12 jeweils 20.15 h ) Vorverkauf unter 0221-550 43 15, weitere infos hier www.annettemeisl.de
Mein Buch „Fünf Männer für mich“ kann man in allen Buchhandlungen bekommen oder hier: http://shop.lagalana.de/artikel/fuenf-maenner-fuer-mich
Und in meinem Zigarrensalon gibt es spannende Seminare zu Zigarrenherstellung und Rumverkostungen. www.lagalana.de
Das Interview führte Melanie Raabe.
Fotos: Dario Scandura.
Pasquale Virginie, 36, Berlin
„It’s O.K. You can breathe. The change happens by itself.“
Liebe Pasquale! Was machst du beruflich?
Gerade habe ich eine Entscheidung hinter mir: Ich habe entschieden, nach zwei intensiven Jahren Ausbildung zur Praktikerin der Grinberg-Methode mit eben dieser zu pausieren. Ich liebe Entscheidungen! Diese hier gibt mir gerade viel neuen Freiraum nachzufühlen, was ich eigentlich noch so liebe im Leben, außer Menschen zu berühren! Oder anders: mich wieder darauf zu besinnen, wie ich Menschen – außer mit meinen Händen – noch berühren kann, um sie dabei zu unterstützen, ihr Leben zu verändern. Seit 2008 bin ich als Beraterin und Trainerin der politischen Bildungsarbeit tätig, freiberuflich und im gesamten Bundesgebiet. Ich werde von Migrant_innenselbstorganisationen, Universitäten, Stiftungen und politischen Initiativen angefragt, Trainings und Workshops zu den Themen machtkritische Diversity, Empowerment für Menschen mit Rassismuserfahrung und Antidiskriminierung zu geben. Manchmal moderiere ich auch Veranstaltungen und Fachgespräche oder werde für Mediationen angefragt, in denen die Konfliktparteien sich eine rassismus-sensible Begleitung wünschen. In all diesen Bereichen versuche ich, Lernprozesse so ganzheitlich wie möglich zu gestalten. Also methodisch so zu arbeiten, dass der Körper ein selbstverständlicher Teil von Lern- und Transformationsprozessen ist. Denn Diskriminierungformen wie Rassismus oder Sexismus machen sich ja am Körper fest! Gesellschaftliche Vielfalt und daran gekoppelte Diskriminierungerfahrungen sind im Körper eingeschrieben, geschaffene Machtgefälle, konstruierte Unterschiede und Gewalt werden körperlich performiert. Da erscheint es mir absurd, individuelle und gesellschaftliche Transformation ausschließlich mit intellektuellen Analysen, kopflastiger Reflexion und vielen schlauen Worten erreichen zu wollen. Und dann: Ich schreibe. Ja, ich liebe das Schreiben, und ich will mehr davon in meinem Leben haben.
Wo und wie bist du aufgewachsen? Hattest du eine glückliche Kindheit?
„Eine glückliche Kindheit“? Das klingt in meinen Ohren fast schon kitschig. Nun, ich habe viele einzelne Erinnerungen an schöne Momente in meiner Kindheit. Der Rest verschwimmt. Prägend war, dass ich alleine mit einer schwer depressiven Mutter aufgewachsen bin. Also mit einem Menschen, der zwar nicht suizidgefährdet war, jedoch meistens mit der Intensität des Lebens überfordert war. Daher kommt es wahrscheinlich, dass ich mich im Laufe des Aufwachsens immer wieder bewusst für das Leben entschieden habe und es auch heute immer wieder muss! Das Wien der 80er und 90er Jahre war – naja – von beschaulich, idyllisch über geleckt, verstaubt bis morbid und rassistisch.
Wie warst du als Teenager?
Die längste Zeit ein „Fliegengewicht“ das „von Liebe und frischer Luft“ lebt, mit „Bienenstichen statt Brüsten“ – wurde mir öfter mal gesagt. In Wirklichkeit war ich als Teenager im Wesentlichen damit beschäftigt, mich von meiner Mutter abzugrenzen, fröhlich zu sein, auch wenn ich es gar nicht war, zwischendurch von zu Hause abzuhauen, unglücklich verliebt zu sein, mit meiner besten Freundin eng umschlungen in der Klasse zu sitzen, unglaublich viel Gummizeugs zu essen, auf den Flohmärkten die schicksten Teile aus den Klamottenhaufen zu fischen – und solche Dinge halt. Irgendwann wollte ich Gogo-Tänzerin werden, weil ich in den Gogo-Tänzer vom Club P1 in Wien verknallt war. Doch Vater – den ich mit 13 kennengelernt hatte – ist ausgerastet und hat es mir verboten. Und weil ich so froh war, dass mein Vater überhaupt – auch wenn mit Verboten – irgendwie in Erscheinung trat, hab ich es gelassen.
Wie sieht dein Arbeitsalltag aus?
Ich schlafe gerne lang. Das heißt, wenn ich nicht gerade um 8 Uhr einen Zug nach München oder Köln nehmen muss, geht vor 9 bei mir gar nichts. Meine Woche ist in der Regel strukturiert durch ausgedehnte Rumdaddelphasen, die ich oft mit „Freizeit“ verwechsle und im Internet verbringe, und Arbeitsphasen, in denen ich irgendeiner Frist hinterherjage um eine Zusage zu erfüllen, die ich irgendwann mal gemacht habe. Oder ich schreibe Mails, in denen es darum geht, wann ich die gemachte Zusage erfüllen kann. Oder To-Do-Listen mit Namen, wen ich alles an- oder zurückrufen muss. In den Rumdaddelphasen gehe ich auch mit Freundinnen oder Freunden im Kiez Mittagessen, ’ne Runde um den Block und Café trinken. Dann habe ich mehrmals in der Woche Skype- oder Face-to-face-Besprechungen, in denen ich mich mit meinen diversen Kolleginnen und Kollegen kurzschließe, wir Anfragen, Trainingskonzepte oder Organisatorisches besprechen. Am Abend bin ich entweder mit Freundinnen und Freunden oder meinem Partner unterwegs oder genieße es sehr, gerade nicht unterwegs zu sein und alleine zu sein. Und irgendwann ab 23 Uhr schlagen die Fristen in meinem Kopf Alarm, ich werde produktiv, haue in die Tasten, habe die besten Ideen, bin fürchterlich inspiriert und denke intensiv darüber nach, dass und wie ich am nächsten Tag mein Leben ändern werde. Donnerstag oder Freitag geht es dann los nach Bremen, Stuttgart, München, Köln oder wo auch immer das Training stattfindet, am Sonntagabend oder am Montag geht es zurück nach Berlin, und ich versuche, einen Tag frei zu nehmen, was dann meisten rumdaddeln heißt. In den letzten zwei Jahren war ich in der Ausbildung zur Grinberg-Praktikerin, das ist eine Methode der Körperarbeit. Da waren meine Tage durch Einzelsitzungen mit Klientinnen und Klienten strukturiert, jeweils einen ganzen Vormittag oder Nachmittag, das hat mir echt gut getan. Doch ich habe vor Kurzem entschieden mit der Ausbildung zu pausieren, also wird sich mein Arbeitsalltag jetzt wohl wieder neu strukturieren.
Was liebst du an deinem Job? Und gibt es auch etwas, das dich frustriert?
Ich liebe es, Menschen zu berühren. Ich liebe es, dass ich, so wie ich bin, Räume schaffen und begleiten kann, in denen Menschen Neues über sich und die Welt erfahren, in denen sie es wagen, sich zu zeigen und Lust bekommen, sich von in Körper und Geist gespeichertem rassistischen Wissen zu befreien. Ich liebe es, mitbekommen zu dürfen, wie sich Menschen, Gedanken, Ideen, Sichtweisen, Erfahrungen etc. transformieren, wie Menschen „werden“ wenn sie sich dafür öffnen, etwas Neues zu denken, zu erleben und zu fühlen. Was mich in den letzten Jahren eher frustriert hat, ist das Gefühl, meinen Freundinnen und Freunden in Berlin nicht meine Wertschätzung zeigen zu können, weil ich einfach so viel unterwegs bin. Ich habe das Gefühl, nicht wirklich für sie da sein zu können. Da ich überwiegend am Wochenende Trainings habe, verpasse ich die meisten Geburtstage, Ausstellungseröffnungen, Lesungen, Parties und sonstige Aktivitäten. Doch vielleicht irre ich mich. Ich könnte ja mal meine Freundinnen und Freunde fragen, ob sie das auch so erleben. Und das Reisen strengt mich auch an, das soll anders werden. Es geht also eher um die Rahmenbedingungen meines Jobs, inhaltlich und atmosphärisch erlebe ich meine Arbeit als das Gegenteil von Frust.
Alle Menschen, die tiefe Widersprüche in sich tragen und schwere Krisen überleben. Meine Mutter mit ihrer Todessehnsucht und ihrer Lebendigkeit. Mein Vater mit seinen Träumen und seinen Misserfolgen. Menschen, die sich treu bleiben und es dennoch – oder genau deshalb? – wagen, heute „hü“ und morgen „hott“ zu sagen. Einfach weil sie eine neue Entscheidung für sich als richtig erkannt haben. Menschen, die andere Menschen berühren – wie meine ehemaligen Grinberg-Lehrerinnen Nadine Débetaz oder Vered Menasse. Menschen die kämpfen – wie viele Schwarze politische Aktivist_innen und Aktivist_innen of Color – und Menschen, die Liebe schenken und Frieden stiften – wie die kürzlich verstorbene Fotografin Nzitu Mawhaka. Menschen die sagen „I don’t give a fuck“ und etwas erschaffen.
Was machst du am Liebsten, wenn du nicht arbeitest?
Schreiben, lesen und schmusen.
Hast du ein Lieblingsbuch?
Uff, wo anfangen? Gut, ganz pragmatisch beantwortet: vor Kurzem habe ich „Winifred Wagner: oder Hilters Bayreuth“ von Brigitte Hamann zu Ende gelesen. Der 600 Seiten lange Wälzer hat mich ganz schön in seinen Bann gezogen. Ein Detail: die erste Schwarze Sängerin, die auf dem Festspielhügel sang, war 1961 die Sopranistin Grace Bumbry! Sie sang die Venus im Tannhäuser (ich glaub‘, nachher hätte sie gut ein Empowerment-Coaching brauchen können), und das Engagement führte immerhin zu ihrem internationalen Durchbruch. In diesem Jahr liebe ich es, in die Lebens- und Schaffensgeschichten von realen Menschen aus der Vergangenheit einzutauchen. Ich habe den Eindruck, dann die Vergangenheit besser zu verstehen, somit auch die Gegenwart und letzten Endes auch mich. In diesem Jahr waren das unter anderem die Geschichten von Delia Zamudio Palacio, einer Schwarzen Feministin und Gewerkschafterin in Peru, von der fast vergessenen Tänzerin des Berlins der 20er Jahre, Anita Berber, der wichtigsten deutschen Solistin des Modernen Tanzes, Dore Hoyer, oder Albert Speers Sicht der Dinge in seinen „Erinnerungen“. Oh und generell alles von Wolf Haas.
Hast du einen Lieblingsfilm?
Das kann ich gar nicht sagen. Obwohl, „West Side Story“ von 1961 und „A Chorus Line“ von 1985 sind schon ziemlich schick. Doch ich kann dir sagen, welche zwei Filme mich richtig kalt erwischt haben. Also tagelang begleitet haben. Das war einmal „I am Love“ mit der wunderbaren Tilda Swinton (wenn du mich fragen würdest: „Wenn Du für einen Tag wie jemand anderer aussehen könntest, wer wäre das?“, es wäre Tilda Swinton). Ich war zerstört nach dem Film. Und dann „Into the Wild“. Der war auch krass. Generell geht es mir so, dass ich mir sowohl Bücher als auch Filme und Musik nur gefühlsmäßig merke. Also nicht korrekt oder komplett, sondern in Bruchstücken. Abhängig davon, was mich berührt. Und diese beiden Geschichten, die Entscheidungen, die die Protagonistinnen und Protagonisten treffen und die Konsequenzen, die daraus folgen, sind mir wirklich durch Mark und Bein gegangen. In beiden Geschichten entscheiden sich Menschen für die Freiheit – oder das was sich für sie danach anfühlt – und ernten den Tod. Brrrr.
Welche Musik läuft bei dir rauf und runter?
„Rauf und runter“ ist gut gefragt, denn tatsächlich höre ich Musik so. Ich habe erst in den letzten Jahren gelernt, Musik ausgiebig und wirklich bewusst zu hören, also mich tief davon berühren zu lassen. Wenn sie mir gerade gut tut, kann die schon mal stundenlang auf Repeat laufen. Im Moment zum Beispiel läuft seit Stunden die Kora-Musik von Toumani Diabaté, abwechselnd mit einem Mix von Chefket. Lauryn Hills Unplugged-Album schickt mich immer an einen guten Ort. Und der letzte Song „The Conquering Lion“ bläst mich jedes Mal weg: „The conquering lion, Shall break every chain, The conquering lion, Shall break every chain, Give him the victory, Again and again and again and again, Give him the victory, Ohh.“ Ansonsten Edith Piaf oder Letta Mbulu oder Ahmet Aslan oder die geniale Tsegué-Maryam Guébrou oder Lizz Wright oder Fetsum oder Gonzales oder oder oder.
Welches ist die wichtigste Lektion, die du bisher gelernt hast im Leben?
„Stop worrying.“
Was ist das Interessanteste, was dir jemals passiert ist?
Dass das das Erste war, was meine Grinberg-Lehrerin zu mir gesagt hat. Und die Faszination darüber, was echte Aufmerksamkeit in der Lage ist, zu bewirken. Deine Wahrnehmung erweitert sich auf eine Weise, die nahezu magisch ist.
Welches ist dein liebstes Zitat?
Ich hab‘ mal einen Urban Aufkleber entdeckt mit den Worten: „It’s O.K. You can breathe. The change happens by itself.“ Ich liebe es.
Was inspiriert dich?
Menschen und ihre Taten. Der Mond. Mein Körper. Tanz.
Was macht dich glücklich?
Wenn ich mich so sehr berühren lasse, dass mein Herz einen kleinen Sprung macht oder kurz aussetzt und mein Körper von ganz alleine einen besonders tiefen Atemzug nimmt, um die Realität dieses Moments voll aufzunehmen. Zuletzt bekam ich eine lange Mail eines Vaters Schwarzer Kinder, in dem er sich für einen Text von mir bedankt hat. Ja, es macht mich glücklich, wenn ich Menschen inspirieren kann. So wie ich von Menschen inspiriert werde. Das ist ein großes Geschenk.
Das Interview führte Melanie Raabe.
Mehr von Pasquale Virginie gibt es hier: http://empowering-diversity.tumblr.com/
Jörn, 31, Lübeck/Ingolstadt
„Offene Augen, Ohren, Herz.“
Lieber Jörn! Was ist das Interessanteste, was dir je passiert ist?
Momentan, dass ich genau diese Frage neulich jemandem gestellt habe. In Ermangelung auf der Hand liegenderer Themen in einem stockenden Gespräch. Und als Antwort bekam ich eine tolle Geschichten über Seekrankheit auf dem Polarmeer zu hören. Ich selber habe aber folgende Geschichte erzählt: Freundinnen von mir haben zufällig einen Typen in seinem Garten aufgestört, der meinte „Och nee, jetzt habt ihr mich beim meditieren gestört“ Er hat sie dann aber eingeladen irgendwann nochmal wiederzukommen. Das haben die auch gemacht und mich und ein paar Sixpacks mitgenommen. Wir saßen dann also einen Abend im Wohnzimmer dieses Menschen. Exakt die Sorte vor denen meine Mutter mich immer gewarnt hat. Ernsthafte Drogenvergangenheit, esoterische Wolfsbilder an der Wand, alles ein bisschen runtergekommen. Aber plötzlich sitzt dir ein wildfremder Mensch, dem du sonst nur an Flaschenrückgabeautomaten begegnen würdest, gegenüber und erzählt Dir, was er denkt, was er erlebt habt, fühlt und so weiter. Das war sehr überraschend und prägend. Und definitiv genauso interessant wie der Abend als ich mit Günter Grass Rotwein getrunken habe. Aber das ist eine andere Geschichte…
Du kommst vom Land – genauer gesagt aus dem Oberbergischen. Wie würdest du deine Kindheit und Jugend beschreiben?
„Da wo ich herkomm / stehn die Kühe auf den Wiesen / und seh´n aus wie / Götter aus grünem Gras / Hier sind die Eier frisch / und man kennt die Namen / der Tiere die man ist / Chorus: Das ist da, das ist da wo ich herkomm / das ist da wo ich herkommm … / Da wo ich herkomm / tragen Jungen Karohemden / trinken gerne Bier/ haben ordentliches Haar/ Die Mädchen machen gern eine Ausbildung / und sehen zuviel fern / das ist da…
(Bridge:) Nicht so viele Kneipen /aber jeden Menge Spaß / Fußballverein und Grillfleisch / barfuß durch das Gras / Repeat Chorus …“
Also so hab ich das jedenfalls 2000 beschrieben und da steckte ich ja noch mittendrin.
Mir war relativ früh klar ,dass ich das, was ich in meinem Leben machen wollte, dort nicht würde umsetzen können. Und das entspannt ungemein. Jedesmal wenn ich jetzt da bin freu ich mich über Freunde und Verwandte, die noch da sind (und entspannt sind), genieße die vielen Hügel und Bäume und reg mich auf, weil immer mehr zugebaut wird und die Bäcker, die diese großartigen Teilchen gemacht haben, alle zumachen. Dafür kommen da jetzt Billo-Vintage-Schreiner rein. Und die Kuhställe werden alle zu Wohnungen umgebaut. Überhaupt ein unterschätztes Thema: Gentrifizierung im ländlichen Raum.
Du hast schon als Kind auf der Bühne gestanden, du hast Schauspiel studiert, du warst am Stadttheater und du warst freier Schauspieler, du führst Regie, du hast in Spanien Theaterseminare gegeben, warst kürzlich auf einem Theaterfestival in Serbien und kommst auch so ziemlich rum. Was ist deine schönste, lustigste oder schrägste Anekdote aus der wunderbaren, wunderbaren, sexy Welt des Theaters?
Oh mein Gott. Theateranekdoten. Das ist für außenstehende meist gar nicht so lustig. (Haben mir schon einige Freunde nach Partys erzählt). Aber ich mochte es sehr, bei den Bayerischen Theatertagen 2006 in Bamberg mit einem ziemlich postdramatischen Stück eingeladen gewesen zu sein und von einem Zuschauer zu hören „Ich han sowas noch nie net gsehe aber desch war großartig.“
Wie bist du zum Theater gekommen?
Auf dem Land. Da wird Vereinsleben ja noch großgeschrieben und ist auch ratsam, weil man als junger Mensch seine Energie irgendwie kanalisieren lernen will und soll. Mein sportlicher Ehrgeiz war eher begrenzt, auf Chöre hatte ich keine Lust und meine Begeisterung für christliche Jugendarbeit reichte nicht über die Rezeption hinaus. Zum Glück gab es eine offene und ehrgeizige Theatergruppe. Gegründet von Enthusiasten und dann von einem altgedienten Theatertier durchorganisiert. Da hab ich mich ab zwölf engagiert, Blut geleckt, ausprobiert. Ich hab da später dankenswerterweise viel Freiraum zum Ausprobieren bekommen.
Auf welches deiner vielen Projekte bist du besonders stolz?
Auf alle wo man nach neugierigen Probenwochen mit Stolz auf das Ergebnis blickt und sagt: So cool hatte ich es mir gar nicht vorgestellt. Ein paar Sachen aus meiner Landtheatervergangenheit gehören da rein, definitiv meine Lübecker Jugendclubs und natürlich meine Lesereihe „Prima Vista Social Club“, bei der ich einfach in Kneipen und an anderen tollen Or ten sitze, Texte vorlese und mit Menschen ins Gespräch komme. Die Resonanz auf diese simple Schnapsidee war so positiv, wie ich das selten erlebt habe und mit der Reihe auch nach zweieinhalb jahren gerne unterwegs bin.
Was ist das Coolste, das du je auf einer Bühne tun durftest?
Das Tolle ist ja, dass man relativ viele Sachen auf der Bühne macht, zu denen man sonst nicht ohne Strafanzeige kommt. Singen, tanzen, schießen, fechten, klettern, schreien. Das macht einen privat sehr entspannt (warum so viele Schauspieler so hysterisch sind, weiß ich auch nicht.) Viele Leute sprechen mich auch nach sechs Jahren immer noch auf „Werther“ an. So sehr man über das Mittel streiten kann: Vor einem Publikum mit 600 OberstufenschülerInnen komplett nackt eine drei Meter-Wand hochklettern war sowohl für die wie für mich ein spannendes Erlebnis.
Und was ist das Blödeste, das du je auf einer Bühne tun musstest?
Wenn man blöde Sachen auf der Bühne macht ohne dem Regisseur zu widersprechen, ist man selber Schuld und mault nachher nicht rum.
Welches ist dein größter, noch unerfüllter kreativer Traum?
Die perfekte Wohnung mit dem richtigen Menschen gemütlich machen.
Und natürlich ne Menge Zeug, das aber an der Finanzierung, eigenem Unvermögen und Ehrgeizlosigkeit scheitert. (Sorry, Hollywood und Frankfurter Buchmesse.)
Lass uns über Musik reden. Immerhin sind deine Compilations, die du an gute Freunde verteilst, fast schon legendär. Welches sind deine Lieblingssongs derzeit?
Vielen Dank für die Blumen. Musik zu teilen ist ja ne schöne Art, was über eigene Gefühle zu erzählen. Ich steh auf alles was raffiniert und überraschend ist und wühl gern in der Musik- und Popgeschichte. Momentan ist es Februar 2014. Ich hab ne Menge um die Ohren. Deshalb brauch ich Happy Music zum Zweitwohnsitz schönmachen und Hüften wackeln. Perfekt ist „Jeepster“ von T.Rex (gewinnt nach dem zehnten Hören). Die letzte CD (!) die ich mir dank der EbayGrabbeltischGlobalisierung aus Jersey bestellt habe: „Resident Alien“ von Spacehog. Eine zu unrecht vergessene Perle des 90er-Pops.
Welches sind deine Lieblingsfilme?
Velvet Goldmine, Rumba, Labyrinth, Smoke, Stardust – das sind die, die ich alle anderthalb Jahre sehen muss. Ja, ich liebe witzigen Kitsch.
Mit welcher Person – egal ob realistisch oder unrealistisch, lebendig oder tot – würdest du gerne mal Tee trinken?
Das ist so ne Einsame-Insel-Frage… Da kann man nur verlieren. Im Moment aber mit meiner Freundin. Wir haben grad ne berufsbedingte Fernbeziehung und da zieh ich sie dem Dalai Lama definitiv vor.
Du bist einer der kreativsten Menschen, die ich kenne. Was inspiriert dich?
Offene Augen, Ohren, Herz.
Was macht dich glücklich?
Liebe Menschen in angenehmer Umgebung und dazu vielleicht noch ein frisch gezapftes Bier – reicht schon.
Hast du ein Lebensmotto?
Nicht mehr.
Hast du Vorbilder?
Leute, die mit Mut und Sorgfalt ihr Ding machen und dran bleiben.
Was ist der Sinn des Lebens?
Rumwuseln. (Hab ich zumindest auch 2000 so aufgeschrieben und je älter ich werde, desto mehr glaube ich, dass ich recht hatte.)
Jörn live gibt’s beim Prima Vista Social Club:
Mi, 26.03.2014, 20h – Diagonal, Kreuzstraße 12, Ingolstadt
Sa 26.4. , 20h – Feuerwerk, Hansestraße 24, Lübeck
So 18.5., 19.30h – Tonfink, Große Burgstraße 46, Lübeck
und Sa 21.6., 20h – „Mein schönstes Ferienerlebnis“ – Diary Slam – Theater Lübeck, Studio
Das Interview führte Melanie Raabe.
Foto 1 und Foto 3 (von oben nach unten): Olaf Malzahn, http://olafmalzahn.de/
Foto 2 und Foto 4 (von oben nach unten): Thorsten Wulff, http://www.thorstenwulff.com/
Caterina, 28, Frankfurt a.M.
„Pure Vernunft darf niemals siegen“
Du bist auf einer Insel aufgewachsen. Stelle ich mir sehr schön vor – solange man noch ein Kind ist. Wie würdest du deine Kindheit und Jugend beschreiben?
Heiter bis glücklich. Auf einer Insel, die noch dazu direkt ans Festland angebunden ist, aufzuwachsen ist im Grunde nichts Besonderes, doch zuerst direkt am Strand und später in einem alten Forsthaus mitten im Wald aufzuwachsen ist es eben doch – selbst über das Kindsein hinaus. Ich hätte mir keine andere Kindheit und Jugend wünschen können. Aber gleichzeitig weiß ich: An diesen Ort kehre ich allenfalls als Touristin oder als Rentnerin zurück, er kann mir nicht das geben, was ich heute zum Leben brauche.
Was hat dich in deiner Jugend am meisten geprägt?
Angesichts meines Werdegangs müsste ich sagen: Bücher. Doch das wäre eine Verdrehung der Tatsachen, denn die Wahrheit ist, dass Musik und Kunst einen viel höheren Stellenwert in meinem Leben hatten. Vor allem aber waren es schon damals die Menschen in meinem Umkreis, die mich am meisten geprägt haben. Meine Familie ebenso wie meine Freunde. Sie – und gemeinsame Erfahrungen mit ihnen – haben mich zu jemandem gemacht, der an anderen Menschen, Kulturen und Sprachen interessiert ist, und das ist es, was wohl auch heute noch am meisten mein Wesen ausmacht.
Welche Art von Teenager warst du?
Diese Frage würde ich am liebsten überspringen, da meine Antwort in etwa so unspektakulär ausfällt, wie ich als Teenager war. Ich tanzte nur unwesentlich aus der Reihe, war nicht wilder als die anderen und genauso sonderbar, fiel auch sonst kaum auf. Gehörte zu den Stillen im Hintergrund, beobachtete, machte mein Ding, bewegte aber nicht die Welt. Daran hat sich bis heute wenig geändert. – Aber vielleicht spricht da auch nur die Bescheidenheit aus mir, von der eine Lehrerin einmal sagte, sie sei »mein Charakteristikum«. Ich habe das immer als Kompliment aufgefasst.
Du hast eine Zeit lang in Italien studiert. Wie war’s?
Das Studium? Nicht der Rede wert. Das Leben? Fantastisch. Eine schöne Zeit – ich bereue es nicht, sie dort verbracht zu haben, auch wenn das gleichzeitig heißt, sie nicht in Berlin und mit meinen Freunden verbracht zu haben. Ich liebe die Sprache, liebe viele der Menschen, die ich dort kennengelernt habe, und viele der Orte, an denen ich war. Nach vier Jahren hat es mir zum Leben zwar nicht mehr gereicht, und einiges, was Land und Leute ausmacht, ärgert mich – und doch: Mir fehlt Italien. Wenn ich heute hinfahre, ist es wie nach Hause kommen.
Was antwortest du, wenn dich ein Fremder auf einer Party fragt, „was du so machst“?
In solchen Situationen lässt sich immer ganz wunderbar der Name einer Initiative zur Vernetzung der Branche zitieren: »Ich mach was mit Büchern«. Es folgt in der Regel ein erwartungsvolles Augenbrauenheben, woraufhin ich präzisiere: »Ich arbeite in einer Literaturagentur.« Die meisten finden das spannend genug, um nachzuhaken und mir eine halbe Stunde lang Fragen zu stellen. Was toll ist, weil mir selbst immer schon nach zwei Fragen die Puste ausgeht, wenn mir jemand erzählt, er sei Wirtschaftsinformatiker oder Maschinenbauingenieur.
Wie bist du in der Literaturbranche gelandet?
Über einen relativ geraden Weg (zumindest in meinen Augen, aber manch anderer würde unter »gerade« vermutlich etwas anderes verstehen). Am Ende meines geisteswissenschaftlichen Bachelorstudiums habe ich mir in den Kopf gesetzt, ins Verlagswesen zu wollen, daraufhin habe ich einen Masterstudiengang namens »Journalismus und Verlagskultur« gewählt (inhaltlich leider eher zu vernachlässigen, aber der Titel genügte für alles Weitere), einige Praktika im Kulturbetrieb absolviert, u.a. in einer Mailänder Literaturagentur und in einem Berliner Verlag, die mir den Weg wiesen, schließlich ein Volontariat gesucht und gefunden, und zwar in jener Frankfurter Literaturagentur, in der ich bis heute tätig bin.
Was würdest du machen, wenn du nicht in der Buchbranche gelandet wärst?
Nach dem Abitur hatte ich mir fest vorgenommen, ein Studium der Bildenden Kunst zu absolvieren. Aber die Wahrheit ist, dass ich eine lausige Malerin und Zeichnerin bin, es reichte gerade einmal zum Beschenken von Verwandten. Zu Beginn meines Italienischstudiums hatte ich mir schließlich fest vorgenommen, etwas mit Sprachen zu machen. Eine deutlich weniger abwegige Idee als die Kunst, und so ähnlich ist es ja auch gekommen. Was gut ist, denn ich kann mir kaum etwas anderes vorstellen: Wenn es nicht die Buchbranche wäre, dann doch zumindest der Kulturbetrieb im weitesten Sinne, mich reizt zum Beispiel die Arbeit des Goethe Instituts. Das Geisteswissenschaftlerklischee – Taxifahren – kann ich hingegen nicht erfüllen, da ich nicht Auto fahre.
Woran erkennst du ein gutes Buch?
Es gibt keinen Kriterienkatalog, entlang dessen ich ein Buch beurteile. Es muss mich schlichtweg einnehmen, inhaltlich, vor allem aber stilistisch. Es muss etwas in mir auslösen, mich bewegen, aufrütteln, eiskalt erwischen und nicht wieder loslassen. Das kann ein Gegenwartsroman ebenso wie ein Krimi leisten. Wobei man natürlich unterscheiden muss, für wen und was ich das Buch beurteile: In der Agentur muss ich immer auch die Ausrichtung der Verlagsprogramme, die Bedürfnisse des Marktes und somit die Verkäuflichkeit des Stoffes im Blick haben, »gut« ist hier also relativ; bei meinen privaten Lektüren lege ich ganz andere Kriterien an, da bin ich wie jeder Leser radikal subjektiv.
Welches sind deine Lieblingsautoren?
Lieblingsbücher habe ich einige – Lieblingsautoren hingegen kaum, da ich von den wenigsten Autoren mehr als ein oder zwei Bücher kenne. Das ist keine bewusste Entscheidung, es ergibt sich nur meistens so, weil es schlichtweg so viele literarische Stimmen zu entdecken gibt. Unumstritten an erster Stelle steht jedoch Jonathan Safran Foer, dessen Bücher genau das mit mir machen, was ich vorher beschrieben habe. Weitere Anwärter auf den Olymp: David Grossman, Nicole Krauss, Salman Rushdie und einige andere. Im deutschsprachigen Raum sind es Autoren wie Sibylle Berg, Clemens J. Setz und Tilman Rammstedt, deren Schaffen ich rege mitverfolge. Und darf’s auch noch etwas Italienisches sein? Et voilà: Andrea Bajani und Andrea De Carlo.
Was war deine coolste (interessanteste, lustigste…) Begegnung mit einem Autor?
Das Tolle an meinen Job ist ja: Coole Begegnungen mit Autoren habe ich ständig, was auch daran liegt, dass Autoren einfach eine coole Spezies sind. Ich würde jetzt zum Beispiel gerne erzählen, wie ich einmal mit Tilman Rammstedt in einer Bar in Berlin Mitte versumpft bin. Da ich aber ohnehin schon Gefahr laufe, für einen Groupie gehalten zu werden, erzähle ich an dieser Stelle lieber, wie ich im Rahmen eines Betriebsausflugs gemeinsam mit Stephan Thome den Grenzgang im hessischen Biedenkopf bestritt. Das ist jenes Volksfest, das als Kulisse für Thomes gleichnamigen Debütroman diente und bei dem drei Tage lang zunächst eifrig gewandert und dann eifrig gefeiert wird.
Im Detail hieß das für mich: fünf Uhr morgens aufstehen, zwei Stunden auf dem Marktplatz stehen und den Biedenköpfern beim Aufmarsch zugucken, anschließend strammen Schrittes durch den Wald, fünfzehn Kilometer bergauf, bergab, zwischendurch eine Frühstückspause samt Bier und Würstchen, abends im Festzelt mit dem Autor zu Schlagermusik schunkeln (wobei ich gestehen muss, dass ich nur einen der drei Tage mitgemacht habe). Ein mitunter bizarres Ereignis, wie wohl jedes Volksfest, zumindest aus der Sicht des Außenstehenden – aber amüsant war’s allemal. Und da bekommt das Eintauchen in literarische Welten gleich eine ganz andere Bedeutung.
Mit welchem Autor würdest du gerne mal ein Bier trinken und über das Leben philosophieren?
Nachdem ich mit Herrn Rammstedt nun schon trinken war, würde ich jetzt gerne mal Clemens J. Setz einen ausgeben. Seinen Roman Die Frequenzen habe ich geliebt, noch mehr aber liebe ich seine Lesungen, denn Setz ist ein großartiger Erzähler, der über ein üppiges Repertoire an skurrilen, tragikomischen und wundersamen Geschichten verfügt. Nicht anders stelle ich mir einen Kneipenabend mit ihm vor: Er erzählt, ich nippe schweigend an meinem Bier und kichere und/oder staune vor mich hin. Daher mein Kulturtipp für alle: Wenn Clemens Setz in eurer Stadt liest, geht hin, hört zu und seid glücklich!
Welches sind deine Lieblingsbücher – und warum?
Ich frage mich, ob jemals ein Buch kommen wird, das David Grossmans Stichwort: Liebe und Jonathan Safran Foers Everything Is Illuminated von ihrem Thron stürzen wird. Seit Jahren sind es diese beiden Bücher, die ich nennen muss, wenn ich nach meinen Lieblingsbüchern gefragt werde. So klug, so erschütternd, so unfassbar schön sind sie. Auf faszinierend kunstvolle Weise erzählen sie Geschichten, die einen mit voller Wucht erwischen und nie wieder loslassen. Und genau diesen Anspruch habe ich an Literatur. Der erste Roman, der mich in meinem Werdegang als Leserin sprachlich vollkommen eingenommen hat (mir liegt häufig mehr an der Sprache als an der erzählten Geschichte), ist allerdings Vladimir Nabokovs Lolita. Ich habe ihn zuerst mit sechzehn oder siebzehn gelesen und seither noch einige Male. Wunderschön, wie Humbert Humbert, dieses Scheusal, von seiner Liebe zu dem minderjährigen Mädchen spricht. Der Kontrast zwischen der Abscheulichkeit der Geschichte und der Poesie, mit der diese Abscheulichkeit dargestellt wird, fesselt mich, lässt mich schaudern, berührt mich.
Du betreibst nicht nur das Literatur-Blog „Schöne Seiten“, sondern bist auch Teil von „We read Indie“, eines Zusammenschlusses von Bloggern, der auf Literatur aus unabhängigen Verlagen aufmerksam macht. Warum ist dir das wichtig?
Weil es auf dem Buchmarkt zu viel Mittelmaß gibt, zu viel Belangloses und Uninspiriertes. Viele kleine Literaturverlage bemühen sich im Kontrast dazu um ein anspruchsvolles Programm abseits des Mainstreams, sie stehen hinter jedem einzelnen Buch, das sie machen, statt sich an irgendwelchen Trends zu orientieren – heraus kommen Produkte mit hochwertigem Inhalt und ebenso hochwertiger Ausstattung. Doch leider haben diese Verlage häufig nicht die Kraft, um auf sich aufmerksam zu machen, weil sie schlichtweg nicht über dieselben finanziellen und personellen Ressourcen verfügen wie die großen Publikumsverlage. »We read Indie« ist unser kleiner Beitrag, um die Sichtbarkeit dieser Verlage zu erhöhen.
Welche Bücher aus kleinen Indie-Verlagen hätten deiner Meinung nach mehr Aufmerksamkeit verdient? Dies ist die Gelegenheit, uns ein paar zu empfehlen!
Zuletzt habe ich den wunderbaren Liebeskind Verlag aus München für mich entdeckt, den ich vor allem (aber nicht nur) für die aufregenden amerikanischen Schriftsteller schätze, die er in den letzten Jahren ins Deutsche übertragen hat. Daniel Woodrell, Donald Ray Pollock, James Sallis – das ist harte, düstere Literatur, die einem den Atem raubt. Doch dass Liebeskind auch anders kann, beweist der Verlag mit Romanen wie denen der Japanerin Yoko Ogawa, die surreal-verträumte Geschichten schreibt. Eines der beeindruckendsten Indie-Bücher, die ich je gelesen habe, ist allerdings nicht bei Liebeskind erschienen, sondern in der Frankfurter Verlagsanstalt: Mein sanfter Zwilling von Nino Haratischwili. Was für eine Wucht, was für ein intensives Leseerlebnis! Außerdem überaus empfehlenswert: die bereits erwähnten Frequenzen von Clemens J. Setz (Residenz), Schipino von Svenja Leiber (Schöffling & Co.) und Ich nannte ihn Krawatte von Milena Michiko Flašar (Wagenbach), um nur ein paar weitere Highlights zu nennen. Und es gibt so viele andere großartige Indie-Verlage, die es zu entdecken lohnt: beispielsweise mairisch aus Hamburg, Matthes & Seitz aus Berlin sowie Salis aus Zürich/Berlin.
Wie war der Literaturjahrgang 2013 aus deiner Sicht? Was waren für dich die Highlights?
Ich muss zugeben, dass ich mich zwar eingehend mit Neuerscheinungen befasse, indem ich regelmäßig die Verlagsvorschauen sichte, einer Handvoll Literaturblogs folge und täglich das Feuilleton scanne – doch selten landen diese Bücher auf der Stelle in meiner Bibliothek, und noch seltener werden sie auf der Stelle gelesen. Ich lese, was für mich dringend ist – und das können ganz andere Sachen sein als die, die frisch erschienen sind. Insofern spiegeln meine Lesejahre nur bedingt das, was auf dem Markt geschieht, wider. Am besten fragst du mich in zwei, drei Jahren noch einmal nach dem Literaturjahrgang 2013. 😉
Was mein persönliches Lesejahr betrifft, hätte ich mir etwas mehr Rauschzustände gewünscht. Wirklich betörend war nur ein Roman für mich, und zwar Katharina Hartwells Debüt Das fremde Meer, erschienen im Berlin Verlag (sieh an: eine Neuerscheinung!). Vieles andere war gut, darunter die oben erwähnten Amerikaner im Liebeskind Verlag; vieles aber leider auch Mittelmaß. 2014 hat in dieser Hinsicht hoffentlich mehr zu bieten.
Kannst du dir vorstellen, selbst mal ein Buch zu schreiben?
Ich würde es mir gerne vorstellen können, weil ich die Idee schön finde, irgendwann ein Buch in den Händen zu halten, das hübsch anzusehen ist und meinen Namen trägt. Aber diesen Gedanken habe ich längst aufgegeben, da ich eingesehen habe, dass ich keine Schriftstellerin bin. Ich kann an Geschichten arbeiten, die bereits auf dem Papier existieren; was ich nicht kann, ist, eine Geschichte selbst zu erfinden, dafür fehlt mir die Beobachtungsgabe, vermutlich auch eine eigene Stimme. Vor allem aber: der Drang zu schreiben. Zumindest momentan.
Welche Kunstformen interessieren dich neben der Literatur?
In erster Linie: Musik und Filme. Sie sind zwar nicht Inhalt meiner Arbeit wie die Literatur, und ich kann nicht behaupten, dass ich Ahnung davon hätte, aber begeistern kann ich mich für sie allemal, mein Leben könnte ich ohne sie ebenso wenig bestreiten wie ohne Bücher. Aber auch andere Kunstformen interessieren und begleiten mich, die Fotografie etwa oder die Malerei. Und selbst das Theater, bei dem ich immer Berührungsängste hatte, entdecke ich gerade für mich, dank einiger grandioser Inszenierungen am Schauspiel Frankfurt.
Hast du einen Lieblingsfilm?
Eher einen Lieblingsregisseur, dessen Werk ich verfolge wie sonst kein anderes: Wes Anderson. Darjeeling Limited liebte ich, aber auch Royal Tenenbaums und Moonrise Kingdom, und ich kann es kaum erwarten, dass der neueste Film, The Budapest Hotel, ins Kino kommt. Ich mag den schrägen Humor und die skurrilen Bilderwelten, die Anderson entwirft, und ich mag all die fabelhaften Schauspieler, die wie lebende Running Gags sein Werk durchziehen, allen voran Bill Murray. Aber es gibt natürlich auch großartige Filme jenseits von Wes Anderson: Lost in Translation von Sofia Coppola, Heaven von Tom Tykwer, Shame von Steve McQueen, In the Mood For Love von Wong Kar-Wai, Gegen die Wand von Fatih Akin. Und verdammt viele andere.
Welche Bands und Songs gehören auf den Soundtrack deines Lebens?
Meines aktuellen Lebens? Meines Lebens überhaupt? Da müsste ich auf jeden Fall Sting, The Police und R.E.M. nennen, die mich in meiner Jugend begleiteten. Außerdem gibt es eine Handvoll Songs, die damals unsere Samstagabende prägten, die wir im immer gleichen Club verbrachten (es überrascht sicher nicht, wenn ich sage, dass die Insel nicht viel abseits des Mainstreams zu bieten hatte): von der deutschen Ska-Combo Lex Barker Experience über »Creep« von Radiohead und »Like the Way I Do« von Melissa Etheridge bis hin zu System of a Down und The Prodigy.
Heute höre ich vor allem Indie und Alternative, darunter auch einiges Elektronisches. Das kann Sigur Rós ebenso wie der fabelhafte kanadische Singer-Songwriter Patrick Watson sein, Arcade Fire, Woodkid oder The Knife. Zuletzt entdeckt: das französische Duo Sexy Sushi, das wüsten Elektro macht, die ruhige Isländerin Sóley, die Schweizer Indie-Bands Alvin Zealot und One Sentence. Supervisor sowie Soap&Skin aus Österreich, deren umwerfende Stimme ich zuerst in dem Song »Goodbye« von Apparat gehört habe. Es war von Anfang an Liebe.
Welches war das beste Konzert, auf dem du je warst?
Das beste ist in der Regel das, was zuletzt war und am präsentesten in meiner Erinnerung ist. Und das war Sigur Rós in Frankfurt im November vergangenen Jahres. Aber selbst wenn es nicht das letzte Konzert wäre, würde ich vermutlich behaupten, es sei eines der besten gewesen: zwei Stunden lang Gänsehaut, zwei Stunden lang völlige Entrückung. Ebenfalls toll: die italienischen Musiker Max Gazzè und Raphael Gualazzi vor einigen Jahren – der eine in einem Theater in Bologna, der andere im Garten einer Mailänder Villa, ganz anders als Sigur Rós, aber beide auf ihre Weise hinreißend. Ein Konzert, auf dem ich noch nicht war, das aber – ich ahne es – eines der besten meines Lebens werden könnte: Woodkid samt Orchester.
Momentan wohnst du wegen des Jobs in Frankfurt, bist aber auch oft in Berlin. Wo würdest du leben, wenn du vollkommen freie Wahl hättest?
Keine Frage: Berlin. Viele meiner Freunde leben dort, und ich habe das Gefühl, dass es in dieser Stadt noch viel für mich zu entdecken gibt. Kultur, Kneipen, Clubs. Und auch die Literaturbranche scheint mir dort um einiges lebendiger, man geht auf Lesungen und kommt immer mit tollen Leuten ins Gespräch, bestenfalls versackt man anschließend in einer Bar. In Frankfurt gibt es – so mein Eindruck – weniger Austausch, mit Ausnahme vielleicht der Buchmesse, die ja eine einzige große Party ist. Aber jenseits von Berlin reizen mich natürlich auch andere Städte: Tel Aviv ist eine davon – seit einigen Jahren hat sich in meinem Kopf die Idee festgesetzt, irgendwann einmal ein paar Monate dort zu verbringen.
Wo siehst du dich in zehn Jahren? (Sorry, wenn das jetzt ein bisschen nach Bewerbungsgespräch klingt! 😉 )
Hätte man mich das vor zehn Jahren beim Abi gefragt, hätte ich mit Sicherheit nicht gesagt: in Frankfurt lebend und als Lektorin arbeitend. Wer landet schon in Frankfurt, von der Ostsee aus gesehen? Und mit Literatur hatte ich auch nichts am Hut, zumindest nicht in dem Maße, dass ich mir hätte vorstellen können, damit meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Weil es also vermutlich ohnehin anders kommt, halte ich mich mal mit meinen Prognosen für die nächsten zehn Jahre zurück. Ich ahne aber, dass es cool wird.
Was ist das Aufregendste, was dir je passiert ist?
Einen bestimmten Moment gibt es nicht, den ich in meinem Leben herausstellen würde, eher eine Zeit. Die Jahre in Italien waren zum Beispiel so eine Zeit, das Leben, Denken, Lieben in einer anderen Sprache – das war schon klasse. Aber auch die Zeit seit meiner Rückkehr nach Deutschland ist aufregend – schlichtweg, weil der Beruf, den ich habe, und die Leute, denen ich dadurch begegne, aufregend sind. Würde ich jetzt auch noch in Berlin oder Tel Aviv leben, wäre das vermutlich zu viel der Aufregung. 😉
Hast du ein Vorbild?
Kein Vorbild im eigentlich Sinne, an dem ich mich auf meinem Lebensweg orientiere. Aber genügend Menschen, die ich für das, was sie tun und sind – auch wenn es etwas vollkommen anderes ist als das, was ich tue und bin –, sehr bewundere, die mich faszinieren und mich beeindrucken, auf ganz unterschiedliche Art. Das können Freunde ebenso wie Personen, die in der Öffentlichkeit stehen, sein. Auf die Gefahr hin, dass der Name in diesem Interview inflationär gebraucht wird: Jonathan Safran Foer ist so ein Mensch. Er hat etwas zu sagen, und er tut es auf eine so einzigartige und inspirierende Weise, dass man ihm unbedingt zuhören möchte.
Hast du ein Lebensmotto?
Der Tocotronic-Songtitel »Pure Vernunft darf niemals siegen«. Zumindest arbeite ich dran.
Was inspiriert dich?
Alles, worüber wir bisher gesprochen haben. Literatur, Musik, Filme – Künste aller Art. Orte. Und Menschen. Menschen, die sich für eine Sache begeistern und diese Begeisterung auf andere übertragen können. Vor allem die.
Welche Frage habe ich vergessen, obwohl du eine total coole Antwort darauf gehabt hättest?
Ich halte mich an Proust und frage: »Deine größte Extravaganz?« (Wobei ich vor allem die Frage mag – eine »total coole« Antwort ist jetzt vielleicht ein bisschen zu viel verlangt.)
Wie lautet die Antwort?
Meine Rastlosigkeit.
Caterina betreibt das fabelhafte Buch-Blog http://caterinaseneva.wordpress.com/ und schreibt zudem für http://readindie.wordpress.com/, einen Zusammenschluss von Literatur-Bloggern, die sich mit Veröffentlichungen aus Indie-Verlagen befassen.
Das Interview führte Melanie Raabe.
Alle Fotos: privat