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Marguerite, 36, Berlin
„Schokolade für alle und Weltfrieden“
Marguerite! Ich folge dir irre gerne auf Twitter. Zum einen, weil du einen großartigen Geschmack hast. Und zum anderen, weil das, was du zu den Themen äußerst, die mich interessieren – Bücher, Kultur, Feminismus… – immer so wunderbar klug und auf den Punkt ist. Wer oder was hat dich und dein Denken am meisten beeinflusst?
Danke für das sehr liebe Kompliment, Melanie!
Am meisten hat mich meine familiäre Umgebung beeinflusst sowie die Regale voller Bücher, die es bei uns zuhause gab. Als Französin in Süddeutschland / Stuttgart aufzuwachsen, hatte für uns viel mit Anderssein, und Doch-dabei-sein-Können zu tun. Das Anderssein manifestierte sich zum Beispiel dadurch, dass meine Eltern beide berufstätig waren und sind und beide gleichermaßen für uns Kinder zuständig und präsent waren. Diese Differenz wurde mir sehr schnell bewusst. Es hat mich auch mit Stolz erfüllt und mich in der Wahl meines Lebensweges stark geprägt. Das Thema Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist dementsprechend eines, was mich heute immer noch beschäftigt und anspricht.
Du arbeitest in der Buchbranche. Woran arbeitest du gerade?
Ich leite zwei digitale Imprints bei den Ullstein Buchverlagen, die wir im Sommer 2014 aus der Taufe gehoben haben.
Gibt es etwas, wofür du hier gerne und ganz schamlos ein bisschen Werbung machen würdest? Das ist die Gelegenheit!
Oh sehr gerne! Wir freuen uns bei Midnight und Forever (zu finden auf http://midnight.ullstein.de bzw. auf http://forever.ullstein.de; Anm. d. Bloggerin) – so heißen unsere digitalen Kinder – immer über tolle Autorinnen und Autoren und über viele neue Leser! Wenn ihr also eine Geschichte geschrieben habt und auf der Suche nach einem Verlag seid, immer her damit! und wenn ihr gerne kurzweilige Lektüre für eure E-Reader sucht, seid ihr bei uns auch an der richtigen Stelle!
Was bedeuten dir Bücher?
Bücher sind für mich Zufluchtsorte und Lernstätten. Sie gehören zu meinem täglichen Leben genauso selbstverständlich wie Essen und Trinken.
Welches sind derzeit deine Lieblingsbücher?
In diesem Jahr habe ich so viele tolle Bücher gelesen, die mich lange beschäftigt haben und die ich unbedingt empfehlen möchte: Why be happy when you could be normal, von Jeanette Winterson. Die komplette Kate-Daniels-Serie von Ilona Andrews, alles von Jeaniene Frost; Der geteilte Himmel, Christa Wolf (endlich Christa Wolf gelesen, nachdem ich das großartige Gesprächsbuch ihrer Enkelin Jana Simon gelesen habe!), Americanah von Chimamanda Ngozie Adichie, My Struggle, pt. I von Karl Ove Knausgaard. Außerdem verschlungen habe ich in diesem Jahr sehr viel Courtney Milan und eine Menge Patricia Briggs.
Und deine Alltime Favourites?
Ich bin ein Riesenfan der Serie Desert Island Discs und könnte dir sofort acht Alben und sogar acht Musikstücke nennen, die meine Alltime Favourites sind und mir etwas bedeuten. Bei Büchern finde ich es absolut unmöglich. Ich schummle also mal und nenne dir drei Lieblingsbücher, die ich so oft als Lektüre empfohlen habe, dass sie bestimmt zu Lieblingsbüchern aller Zeiten wurden: The White Album, Joan Didion; Jahrestage, Uwe Johnson und La Douleur von Marguerite Duras.
Welche Kunstformen interessieren dich neben der Literatur?
Vor allem Kunst und Musik. Musik beeindruckt mich immer, weil ich es irre finde, wie Gedanken in einer Sprache ausgedrückt werden können, die ich nicht schreiben, aber dennoch verstehen kann. Mit Kunst beschäftige ich mich leider nicht mehr so oft wie früher, aber einige Kunstwerke sind, wenn ich sie wieder besuche, ein bisschen wie ein Besuch zu Hause.
Du lebst in Berlin. Was magst du an der Stadt – und was so gar nicht?
Berlin ist eine Stadt, in der es viel Platz gibt und in der wir mit unseren drei Kindern auch gut leben können. Ich bin aber auch schon so lange hier – nämlich seit 1998 – dass ich meine, die besten und wildesten Zeiten der Stadt sowieso schon miterlebt zu haben. Was mich an Berlin immer nervt ist, dass es keinen Horizont gibt, den ich aus der Stadt sehen kann. Und dass der Winter grau und dunkel ist. Das wird aber meist mit einem Wahnsinnsfrühling und -sommer wettgemacht!
Was ist das Aufregendste, was dir je passiert ist?
Als ich 2002 meinen Mann kennengelernt habe. Das war so ziemlich das Aufregendste, weil aus dieser Begegnung alles weitere Aufregende passiert ist. Er kommt aus Kanada und wir haben uns bei der Eröffnung der elften Documenta im völlig unwahrscheinlichen Kassel kennengelernt, mit 6000 Menschen um uns herum. Er war für zehn Tage in Europa, ich nur für die Eröffnung in Kassel. Ein totaler Fall von Liebe auf den ersten (wirklich, den allerallerersten!) Blick. Ob es nun Schicksal oder Zufall war, es war aufregend, und das ist es bis heute.
Hast du ein Vorbild?
Diese Frage hat mich nicht losgelassen. Ich habe Vorbilder in meinen Eltern, die ich schon erwähnt habe. Aber als ich darüber nachdachte, fiel mir auf, dass es in Deutschland sehr wenige Vorbilder gibt für Frauen wie mich. Man liest viel über Frauen, die Babys bekommen und im Beruf bleiben oder aus dem Beruf wegbleiben. Über Frauen, die ein bisschen ältere Kinder haben, liest man gar nichts mehr, möglicherweise, weil wir dann irgendwann zu viel zu tun haben, um auch noch darüber zu sprechen? Weil wir andere Kämpfe kämpfen?
Und weil ich so wenige Vorbilder im öffentlichen Leben sehe, habe ich innerlich beschlossen, selber auch Vorbild zu sein, Rat zu geben etc. Soll heißen, ich dränge mich da nicht auf, finde es aber wichtig die Erfahrungen, die ich gemacht und aus denen ich gelernt habe, an Frauen in meinem Alter oder an Jüngere weiter zu geben und Mut zu machen, dass es Wege gibt, um sein Leben so zu gestalten wie es einem wichtig ist.
Wenn du mich nach weiblichen Idolen fragst, dann bin auch ich nicht immun gegen die POW-ness von Beyoncé, die Vorreiterin Madonna, oder der verrückten Weiblichkeit einer Stevie Nicks.
Was inspiriert dich?
Ich esse wahnsinnig gerne. Und ich meine wirklich wahnsinnig. Deswegen sind Kochen und Backen Aktivitäten, die zwar ganz alltäglich sind, die ich aber immer noch sehr gerne und mit Begeisterung mache. Kochen und Backen sind auch zwei Bereiche, in denen ich wirklich gerne inspiriert werde und für die ich mich aktiv interessiere. Meine Kochbuch- und Kochzeitschriftensammlung kann es bezeugen!
Wenn du für einen Tag die Welt beherrschen dürftest, was würdest du anordnen?
Schokolade für alle und Weltfrieden. Beides vereint dann hier: http://www.splendidtable.org/recipes/world-peace-cookies
Das Interview führte Melanie Raabe.
Foto: privat.
Lukas, 28, Köln
„We’re all born naked. The rest is drag.“
Lukas! Du bist auf dem Land aufgewachsen. Wie würdest du deine Kindheit beschreiben?
Wie in einer Traumwelt. Ich bin in einem Dorf mit sehr vielen ungefähr gleichaltrigen Kindern aufgewachsen, habe so viel Zeit wie möglich draußen verbracht, ständig war irgendwas los, ob man im Wald Buden gebaut hat, ganze Straßenzüge mit Labyrinthen vollmalte, alle Kinder zur auf der im haushohen Walnussbaum aufgehängten Schaukel oder zur selbstgebauten Wasserrutsche kamen. Manchmal habe ich abstrakte Bilder vor Augen, wie das bunt angemalte Holz des Wagens, auf dem man vom Traktor gezogen über das Stadtfest fuhr. Oder eine bewachsene Mauer, auf der man oft gesessen hat und sich Dinge ausdachte. Manchmal habe ich den Anflug eines Gefühls, wie ein Geruch, an den man sich plötzlich erinnert, dann habe ich kurz eine Idee davon, wie es damals war, zu denken. Gelegentlich wünsche ich mich in diesen Zustand zurück – noch einmal fühlen können wie damals. Versteh mich nicht falsch, ich liebe meine jetzige harte Realität. Aber es war schon toll, als ein Hochsitz noch eine Piratenfestung oder ein Raumschiff sein konnte. So schön es auch war, ein fantasievolles Kind zu sein: Ich hatte sehr viele Alpträume, die ich mir glücklicherweise abtrainiert habe. Nach und nach brach die Realität dann über mich herein, wie es jedem Kind ergeht. Im Dorf gab es „Herr der Fliegen“-artige Cliquenbildung, die coolen Raucher gegen die Pferdemädchen. Mir gaben solche Konflikte damals nichts, also gehörte ich tendenziell mehr zu den Pferdemädchen, denen der Konflikt egaler war. Unser Haus stand sogar zwischen denen der beiden Lager. Ähnliche Erfahrungen gab es dann auch während der Schulzeit. Nirgendwo richtig dazuzugehören, habe ich irgendwie immer als positiv empfunden. Manchmal frage ich mich natürlich doch, wie es als cooler Junge gewesen wäre. Wenn ich früh Teil einer größeren Clique gewesen wäre. Ob ich dann Sozialkompetenzen hätte, die mir jetzt – noch – fehlen. Andererseits hätte dann vielleicht der ausgleichende, pazifistische Lukas an vielen Stellen gefehlt. Wie ich schon sagte, alles richtig so…
Heute lebst du in Köln. Wie empfindest du die Stadt?
Köln war meine Befreiung. Ich habe vorher nur auf dem Land und in der schönen Leiche Bonn gewohnt, hier in Köln konnte ich – so platt das klingt – endlich ich selbst sein. Köln ist rau, nicht wirklich schön – abgesehen vom Dom – aber, und man kann einer Stadt kein besseres Kompliment machen, hier kann man leben. Und es ist eine glückliche schwule Insel. Das ist anfangs aufregend und lustig, zwischendurch auch mal eklig, am Ende aber befreiend.
Wo du gerade die glückliche, schwule Insel ansprichst – das empfinde ich genauso. Wir feiern den CSD, tanzen in irgendwelchen Clubs und singen „I’m on the right track baby, I was born this way“. Und sind dabei in einer glücklichen, bunten Seifenblase mit all unseren Freunden aus aller Herren Länder und mit allen möglichen sexuellen Identitäten und wissen zwar, dass man es in Deutschland damit ganz schön gut hat, aber irgendwie vergessen wir den Rest der Welt, in dem es entscheidend anders aussieht, dann doch. Zumindest ging es mir so. Bis so etwas passiert wie in Russland. Mich macht es absolut sprachlos. Wie geht es dir als schwulem Mann damit?
Mir hat das auch nochmal bewusst gemacht, in was für einer glücklichen Position wir uns befinden. Im ersten Moment war ich wirklich kurz davor, mir wie die Berliner Transe Barbie Breakout aus Protest vor der Kamera den Mund zuzunähen. Ich sah mich schon mit dem rosa Winkel im KZ. Es war körperlich. Wenn ich meine Gedanken dazu nicht aufgeschrieben hätte, wäre ich wohl geplatzt. Ich habe dann überlegt, was ich tun kann, und bin zu dem Schluss gekommen, dass man dort, wo es verhältnismäßig gut läuft, also hier, die Sache trotzdem noch weiter vorantreiben sollte. Auch hier in Köln gibt es Homophobie, nicht nur nachts auf den Ringen, auch bei den Homosexuellen selbst. Ich beobachte so oft selbstzerstörerische Tendenzen, die Bereitschaft sich mit Aids zu infizieren ist gestiegen – Stichwort Bugchaser (http://de.wikipedia.org/wiki/Bugchasing – Anm. d. Bloggerin) – in diversen Kölner Grünflächen gehen die Männer cruisen, weil sie sich entweder nicht outen und/oder sich in Gefahr begeben wollen. Manche nehmen sich homophobe Äußerungen zu sehr zu Herzen, und fangen an, ihre eigene Existenz beziehungsweise ihr Recht auf Leben in Frage zu stellen. Es ist schon ein Kampf. Deswegen ist es so wichtig, dass Schwule, wie beim CSD, sichtbar sind. Dieses Jahr beim CSD hab ich mich zum ersten Mal bei Tageslicht als Transe auf die Straße getraut – es war toll. Bisher war ich so nur ab und zu auf Partys. Es ist so wichtig das zu tun, nicht nur um anderen, sondern auch sich selbst zu zeigen, dass das schlichtweg: geht. In meiner unmittelbaren Nachbarschaft gibt es zwei Transen. Eine ist eine umfassbare Trümmertranse mit Netzstrümpfen, einer pinken Strähne in den blonden Locken und halbhohen Schuhen, in denen sie nicht laufen kann. Die andere hat die Figur eines Models, lange blonde Haare, ist wahnsinnig gut angezogen und könnte eine Chefredakteurin sein. Ich vergöttere beide. Auf den ersten Blick mögen sie die Leute nur irritieren, aber auf den zweiten Blick demonstrieren sie, in was für einer gesellschaftlichen Unfreiheit alle anderen leben. Das ist die harte Wahrheit, mit der nicht alle zurecht kommen. Als Jugendlicher habe ich Transen nicht verstanden, damals dachte ich auch noch, alle Schwulen sehen aus wie Alfred Biolek oder tragen Schnurrbärte und Ledergeschirre – und ich würde auch so enden müssen. Heutzutage gibt es zum Glück viele geoutete, auch gutaussehende Promis. Aber immer noch nicht genug! Gerade bei den Geschehnissen in Russland wünsche ich mir manchmal Zwangsoutings à la Rosa von Praunheim. Ich hoffe jetzt, dass Homophobie irgendwann, vielleicht ausgelöst durch Russland, genauso tabu wird wie Antisemitismus. Die Liste der -isms ist lang genug, einer weniger wäre schon prima.
Lass uns vom Scheußlichsten zum Schönsten kommen – der Kunst. Du hast in deiner Jugend viel Theater gespielt. Was hast du von der Bühne mitgenommen?
Die Entscheidung, Theater zu spielen, war eine der ersten, die wirklich so richtig von mir selbst kam. Mit süßen 16 debütierte ich in einem Märchen und lernte so viele Leute kennen, nachdem ich vorher nur mit meinen zwei Nerd-Freunden rumgehangen hatte – nichts gegen Nerds! Das Theater war also auch mein Freundeskreis, und ich habe es vor allem gemacht, weil wir so eine tolle Truppe waren und gemeinsam eine ziemliche Narrenfreiheit genossen. Ich habe damals nicht wirklich gelernt, wie man schauspielert – ich zerbreche mir heute noch den Kopf, wie das funktioniert – aber habe gemerkt, dass ich dadurch gut vor größeren Gruppen sprechen kann und mir auch selten der Gesprächsstoff ausgeht. Mit am liebsten mochte ich, wenn wir beim wöchentlichen Training improvisiert haben. Da sind unglaublich gute Sachen bei entstanden und es war das pure Gefühl von Freiheit. Mein Wunsch, Theater zu spielen, hing mit meiner Tendenz zusammen, alles sein zu wollen, was ich sein konnte und mich nie festlegen zu müssen. Eine Art Eskapismus, den ich aufgegeben habe. Ich habe die Schauspielerei abgehakt, als ich gemerkt habe, dass ich mich eigentlich gar nicht richtig kenne. Also wollte ich mich von nun an darauf konzentrieren, ich selbst zu sein. Als ich Jahre später am Schauspiel Köln gearbeitet habe, schwante mir, was es heißen könnte, ein guter Schauspieler zu sein: In außerordentlicher Weise man selbst zu sein.
Am Schauspiel Köln hast du einige Assistenzen absolviert, auch unter Karin Beier. Kannst du dir vorstellen, nach dem Studium am Theater zu arbeiten?
Unter Umständen, durchaus. So richtig bin ich das Theater ja nie losgeworden. Es kann aber auch in eine völlig andere Richtung gehen. Derzeit ist mein Plan ja: Popstar in Südkorea werden und dann Korea wiedervereinen, so wie damals David Hasselhoff in Deutschland. (lacht)
Apropos Korea! Du bist ein großer K-Pop-Fan, also ein Freund von südkoreanischer Popmusik. Wie speziell! Wie kamst du drauf und warum liebst du ausgerechnet K-Pop so?
Zwei Freundinnen von mir sind Tänzerinnen und hatten Auftritte in Südkorea. Als sie wiederkamen, erzählten sie begeistert von einem Lied, das dort gerade in den Charts war: „Be My Baby“ von Wonder Girls. Ein halbes Jahr später war dann PSY mit „Gangnam Style“ in den Charts und wieder ein halbes Jahr später blieb ich bei Youtube immer öfter bei K-Pop hängen. Da gab es dann eine Menge zu entdecken. Nicht bloß die in der Regel ziemlich aufwendigen Musikvideos, auch sehr viel drumherum: Auftritte der Stars in herrlich albernen bis zuckersüßen Gameshows, tonnenweise Backstagevideos, Zusammenschnitte von Fans – ich habe mir das alles gerne gegeben. Man weiß dort, wie Fan-Service funktioniert. Die Promis sind alle so viel sympathischer und liebenswerter, auch fleißiger und motivierter, als zum Beispiel in Deutschland, wo ich mich zum Beispiel frage, wann das letzte Mal jemand bei Markus Lanz saß, den ich in irgendeiner Weise sympathisch fand. Oder wann ich das letzte Mal gerne eine deutsche Gameshow geguckt habe, deren Kandidaten charmant waren. In Deutschland werden Prominente grundsätzlich erstmal gehasst – das scheinen die zu wissen und geben sich auch keine Mühe. Und deutsche Popmusik gibt es ja auch nicht mehr wirklich. Selbst die amerikanische oder britische ist für mich nicht mehr das, was sie einmal war. Ich habe das Gefühl, alle im Hintergrund Beteiligten des Popbusiness – zum größten Teil vermutlich skandinavische Songschreiber – konzentrieren sich jetzt auf Korea. Es hat sich sogar schon der Begriff der „Korean Wave“ gebildet, die koreanische Popkultur, die auf die anderen asiatischen Länder rüberschwappt.
Welche Musik prägt abgesehen von K-Pop dein Jahr 2013?
Keine. Na gut, ein paar Popsongs und Indie-Hits haben schon eine Rolle gespielt: „Flexxin“ und „Fester“ von den Dutch Uncles und „Play By Play“ von Autre Ne Veut habe ich zum Beispiel recht viel gehört, bevor K-Pop zu dominant wurde. Ich weiß, dass mich der Großteil meiner Freunde wohl für bescheuert hält oder vielleicht glaubt, dass ich einen Fetisch für asiatische Boys habe – aber da müssen die durch!
Eine gemeine Frage: Was willst du werden, wenn du groß bist? Also außer dem Wiedervereiniger Koreas.
Ich will vor allem: werden. Und weiter werden. Meine Oma hat immer gesagt: Wer rastet, der rostet. Man muss sich seine Fragezeichen im Leben bewahren.
Hast du Vorbilder?
Ich picke mir von vielen das Beste raus. Ziemlich weit oben sind zum Beispiel Fran Drescher, Lady Gaga und Spongebob. Aber eigentlich sind meine wichtigsten Vorbilder meine Freunde.
Was ist das Interessanteste, was dir je passiert ist?
Ich hab mal eine Sternschnuppe gesehen, die in Wellenform flog. Das glaubt mir jetzt keiner, ne? Die ist halt so geeiert. Wahrscheinlich war sie einfach nicht stromlinienförmig. Herrje, warum fällt mir nichts Interessanteres ein? Ich bin mal, als ein Sturm tobte und der Zug aus der Heimat nach Köln wegen umgestürzten Bäumen nicht mehr weiter fuhr, mit einem großen Haufen Gepäck ausgestiegen und einfach zehn Kilometer nach Köln gelaufen. Leider bog ich an einer Stelle falsch ab und landete nach ungefähr vier Stunden in Köln-Porz-Eil. Ja, Porz hat sogar noch Unterorte! Auf dem Weg hab ich aber viel von der Welt gesehen, Landschaften, Stimmungen… Es war irgendwie eine total gute, anregende Erfahrung. Man sollte sich öfter verlaufen.
Was ist das Krasseste, was dir je passiert ist?
Ich hatte mal ein halbes Jahr lang Panikattacken, das war schon ziemlich heftig. Ich wusste am Anfang überhaupt nicht, wie mir geschieht, hatte noch nie von sowas gehört. Nach einem kurzen Moment der Überlegung, ob ich mich jetzt für eine „geistige“ Krankheit schämen soll, entschied ich zügig, mit allen so viel ich wollte darüber zu sprechen und mich nicht zu verstecken. Wenn jemand, den ich kenne, das auch kriegen würde, sollte der sich schließlich auch nicht schämen, sondern wissen, dass zumindest ich für ihn da bin. Ich wusste auch, dass ich das so gut es geht selbst loswerden wollte, habe keine Medikamente genommen und nach dem halben Jahr merkte ich dann tatsächlich, wie sich in mir eine kleine Stimme erhob und sagte: „So, es reicht jetzt.“ Ich muss aber auch sagen: Ich war mir selbst nie näher als zu dieser Zeit. So verstörend und beängstigend es auch ist, wenn kein Verdrängungsmechanismus mehr funktioniert und das Unterbewusstsein wie eine offene Wunde vor einem liegt – man ist mal ganz bei sich, man ist ganz wach, maximal bewusst und auch am Weitesten entfernt von irgendeiner Affekthandlung. Sozusagen in den Brunnen gefallen, aber man kann eben nicht mehr tiefer fallen. Das hat eine seltsame Art von Sicherheit gegeben. Vielleicht brauchte ich das einfach mal.
Und was ist das Schönste, was dir je passiert ist?
Das letzte Stück, bei dem ich im Theater mitgespielt habe, war ein ziemlich ambitioniertes Projekt, in das sehr viel Herzblut geflossen ist. Es war somit ein perfekter Abschluss für mich. Ich habe der Regisseurin später gesagt, dass das das Beste ist, was ich je gemacht habe. Die Wehmut hielt sich im Nachhinein allerdings in Grenzen, dank des bis heute immer mal wiederkehrenden Alptraums, ohne Vorbereitung auf einer Bühne stehen zu müssen.
Hast du ein Lebensmotto?
Hab ich mir die Tage erst überlegt: Man muss im Leben zwei Sachen lernen: Not feeling bad about being happy – and not being happy about feeling bad.
Hast du auch ein Lieblingszitat?
„We’re all born naked. The rest is drag.“ – RuPaul
Was inspiriert dich?
Es gibt Musik, zu der ich wunderbar geistig abdriften kann – teilweise sehe ich ganze Filmszenen vor mir. Alleine spazieren gehen kann auch toll sein. Oder natürlich gute Gespräche mit Freunden. Aber eigentlich muss man sich nur mal in Ruhe irgendwo hinsetzen und genau hinhören. Dann sprudelt es auch aus einem raus.
Das Interview führte Melanie Raabe. Be friendly! Meet me at http://www.facebook.com/mademoiselleraabe.
Alle Fotos: Benjamin Wiese
Nilgün, 24, Berlin
„Mich faszinieren Dinge,
die ‚out of the box‘ gedacht sind.“
Nilgün! Du hast kürzlich geheiratet. Herzlichen Glückwunsch!! Und im Anschluss gleich eine vielleicht völlig dämliche Frage, aber: Warum?
Vielen Dank! Als ich meinen Mann bei „World of Warcraft“ kennengelernt habe, dachte ich auch noch nicht, dass wir mal heiraten würden. Die Füllung für die Worthülse „Ehe“ kommt für mich aus der islamischen Lehre. Im Islam ist die Ehe kein Sakrament, das sich erst durch den Tod eines Ehepartners aufhebt, sondern die Verbundenheit zweier Menschen vor Allah, der so nebenbei gesagt der gleiche Gott Abrahams, Moses‘ und Jesu‘ ist. Es ist zwar die unliebsamste himmlische Erlaubnis, aber es gibt sie, die Erlaubnis zur Scheidung. Trotzdem muss ich sagen, tut es ziemlich gut in Zeiten des „schneller, besser, sexier“ und des Beziehungskonsums, sich auf eine Person voll einlassen zu können und von der Qualität der Beziehung zu leben. Uns wird täglich von der Werbung suggeriert, hey es geht noch was, du besitzt noch nicht alles um glücklich zu sein, und das hat sich stark auf die Partnerschaften unserer Kultur ausgewirkt. Verbindlichkeit geht auch ohne Ja-Wort. Aber mit der islamischen Ehe haben wir hoffentlich Gottes Segen eingeholt und zusätzlich eine fette Party geschmissen. Außerdem ist die Ehe so out, dass sie schon fast wieder in ist. Auf unserer Hochzeit war Stefans Großvater der Einzige, der den bräutigamschen Zylinder altmodisch fand, die anderen haben begeistert nach dem neuen „It-Item“ gefischt.
Du bist vor einigen Monaten von Köln nach Berlin gezogen. Klare Sache: Pech für Köln! Wie gefällt es dir in der Hauptstadt?
Hier fluktuiert alles, und man trifft so viele unglaubliche und talentierte Menschen. Berlin ist ein interessantes Phänomen, die Stadt bietet nicht unbedingt die besten Studien- oder Arbeitsplätze im Land, aber die Menschen die es hierher verschlägt, kommen wegen ihrer Interessen und ihrem Lebenshunger. In anderen Großstädten wie London oder Paris bestimmt den Zuzug viel mehr die Arbeitssuche. Unfreiwilligerweise hat sich die Natur um Berlin herum gut erhalten, und ich kann es nicht fassen in Brandenburg noch auf Hirsche, Füchse und eine halbwegs intakte Flora zu treffen. Wenn irgendwo ein Bach plätschert, spricht es wohl meine innere Nymphe an.
Du bist eine Frau mit vielen Talenten und Interessen. Vor allem aber machst du großartige Fotos. Was inspiriert dich?
Mich haben früher Romane inspiriert, in denen es starke Frauenbilder und interessante, abweichende Männerrollen gibt. Lesen ist immer noch ein wichtiger Quell von Inspiration für mich, auch asiatische Filme, das Leben meiner Mitmenschen und vor allem die Natur und Mythologien, in denen sie gepriesen wird. Natürlich muss es zu all dem einen guten Soundtrack geben. Meine Fotos geben eine Sehnsucht nach der Natur wieder, wie ich es auch bei vielen anderen zeitgenössischen Künstlern nachempfinden kann. Ich finde es irgendwie ironisch, weil sich dieses Phänomen alle paar Jahrzehnte oder -hunderte wiederholt, aber ich kann mich dem trotzdem nicht entziehen. Meine erste Ausstellung war meiner in jungen Jahren entdeckten „Floral Fixation“ gewidmet.
Welche Fotografen bewunderst du?
Das Zeitalter der Social Networks hat die Hierarchien abgeflacht und man erfährt viel mehr von jungen Künstlern. Es gibt so viele Fotografen, die wunderbare Arbeiten haben, und ich finde es manchmal faszinierend, wie Qualität und Popularität nicht Hand in Hand zu gehen scheinen. Um einige zu nennen, die vielleicht weniger bekannt sind: Jingna Zhang kommt aus Singapur und ist eine großartige und vielseitige Fotokünstlerin. Interessant finde ich auch, dass sie ebenso wie ich ein Gamer ist und in ähnlichen Dingen Inspiration findet. Kiki Xue ist ein chinesischer Fotograf, Elizaveta Porodina eine russische Fotografin, und Chen Man stammt ebenfalls aus good old Beijing. Außerdem tummeln sich in Krakau besonders viele junge, begabte Analogfotografen. Ich hab demnächst mal vor, dahin zu fahren und mir das Nest anzuschauen.
Hast du noch andere künstlerische Vorbilder?
Botticelli, Dante Gabriel Rossetti, Gustav Klimt, alles Leinwandkünstler vergangener Epochen. Aus der Filmwelt begeistern mich seit jeher Wong Kar Wai, Ang Lee und vor allem Hayao Miyazaki mit seinen Zeichentrickfilmen, in denen man ewig Kind sein und in Fantasie und Weisheit gleichermaßen schwelgen kann. Die Modewelt hat auch einen starken Einfluss auf meine Arbeit und Denkweise, aber nicht direkt die akuten Konsumwellen, die jede Saison neu einschlagen. Um konkret etwas zu nennen: Alexander McQueen, Vivienne Westwood und internationale Kostümgeschichte. Einige Kostüme von den Shootings stammen von mir.
Für viele Menschen mit vielfältigen Talenten ist es schwer, sich für einen Beruf zu entscheiden. Was ist dein Plan?
Meinen Master machen und dann schauen, was der Arbeitsmarkt bietet. In der Zwischenzeit habe ich vor, ein Dutzend Video und Fotoprojekte umzusetzen, damit ich mich nicht der Schande hingeben muss, dass mein Notizbuch voller ist, als mein Portfolio. Mir gefällt es, finanziell nicht von meiner kreativen Arbeit abhängig zu sein, dann kann ich mich ihr besser hingeben und hoffentlich ehrliche Werke schaffen.
Gibt es irgendein neues Projekt, eine Seite oder irgendwas sonst, das du hier gerne promoten würdest? Fire away!
Da wir so viel über den Glauben geredet haben, würde ich gerne eine Kampagne zur institutionellen wie kulturellen Akzeptanz des Islam in Deutschland vorstellen. Mit „Juma“ (Jung, Muslimisch, Aktiv) arbeiten wir an einem Videobeitrag zum Thema, der kurz vor der Bundestagswahl richtig durchstarten wird. Watch out! http://www.juma-projekt.de/
Und meine Internetseiten! http://www.nilgunakinci.com ist noch im Aufbau und hat so gesehen noch kein Release erfahren.
Dann gibt es noch http://www.nilgunakinci.tumblr.com/ und meine Facebook-Seite
http://www.facebook.com/nilgunakinciphotographer. Like, like, like!
Deine Familie kommt aus der Türkei. Spiegelt es sich in deiner Kunst, dass du in zwei unterschiedlichen Kulturen zu Hause bist?
Das kann gut sein. Aber wie das so ist, sehe ich den Wald vor lauter Bäumen nicht und stecke zu sehr in meiner Haut, um das zu beurteilen. Ich beschäftige mich mit vielen transkulturellen und Genderthemen, was ich – surprise, surprise – auch studiere. Mich faszinieren Dinge, die „out of the box“ gedacht sind. Das kommt sicher von meiner Macke, mich partout nicht in eine Schublade stecken zu lassen. In zwei Kulturen groß zu werden kann zwei Dinge bedeuten: entweder man fühlt sich keiner der beiden zugehörig und zurückgewiesen oder man sieht es als die größte Chance des Jahrhunderts und als Vorsprung in der Globalisierung der Welt.
Auf der Facebookseite „Muslima Pride“ hast du kürzlich erläutert, was es für dich bedeutet, Muslimin zu sein. Hat mich – ich bin nicht-praktizierende, evangelische Christin – ziemlich beeindruckt, der Text. Wie hat dich dein Glaube geprägt?
Ich habe in meiner Jugend ein Kopftuch getragen, die Zeit, in der andere Mädchen grelles Make Up und Flirts mit Jungs ausprobieren. Es war toll, muss ich sagen, ich hab mich gefühlt wie Shams-ad-Din, ein Sufi auf Wanderschaft, spirituell unglaublich reich. Aber es macht dich ziemlich früh und unvorbereitet zur Zielscheibe der Gesellschaft und seltsamerweise in irgendeinem Stockholm-Syndrom-Verdreher auch zu der der eigenen Familie, wie es mir aus anderen muslimischen Familien in Deutschland auch zu Ohren gekommen ist. Irgendwann war der Zeitpunkt gekommen, an dem ich diese Zielscheibe abgelegt hab und mich in die Anonymität der Kopftuchlosigkeit geflüchtet habe. Es mag seltsam klingen, aber die Gesellschaft hat es mir nicht gegönnt, mit einem Stück Tuch anders zu sein. Wieso wird in unserer Gemeinschaft so etwas intimes wie die Wahl der Kleidung überhaupt in Frage gestellt? Ich habe inzwischen meinen Frieden damit geschlossen, kann es aber nicht akzeptieren, dass anderen Frauen solch eine Diskriminierung widerfährt. Mein Glaube begleitet mich in meinem Alltag und bei besonderen Anlässen, aber ich würde sagen, dass er für meine Mitmenschen erst im Monat Ramadan auffällt, der dieses Jahr wieder in zwei Wochen eintrifft. Ich freue mich darauf, ganz viele Freunde und meine Familie zum Iftar – dem Fastenbrechen nach Sonnenuntergang – einzuladen und mit ihnen dieses Erlebnis zu teilen. Offenheit gegenüber den Welteinstellungen meiner Mitmenschen ist für mich essentiell, schließlich kennt die Offenbarung viele Wege, sich den Menschen zu zeigen.
Gender und Feminismus sind für dich – genau wie für mich – große Themen. Was bedeutet es für dich, eine Frau zu sein? Hier und heute, 2013, in Berlin?
Ich habe mir nach harter Arbeit eine Sexismus-freie-Zone geschaufelt, in der ich mich als Frau wohl fühle. Aber ich sehe, wie andere noch daran zu leiden haben, und solange irgendjemand diskriminiert wird, dürfen wir nicht aufgeben, die Gesellschaft den darin Lebenden menschenwürdig anzupassen. Sexismus wird häufig hinter anderen Vorwänden versteckt, wie Arbeitsmoral, Ausländerfeindlichkeit, pure Gewalt, „die Natur der Dinge“ – dass ich nicht lache. Aber irgendwann werden die Ausreden ausgehen, und bis zu diesem Zeitpunkt müssen wir dahinter stehen.
Sich mit Feminismus und damit automatisch auch mit Sexismus zu befassen, hat für mich lange Zeit bedeutet, eigentlich ständig wütend zu sein. Wie geht es dir damit?
In meiner Jugend war ich rasend vor Wut angesichts der Ungerechtigkeiten, denen ich selbst ausgesetzt war und der andere ausgesetzt waren, wie ich als Betroffene bemerkt habe. Ich frage mich, warum ich nie etwas umgestoßen habe, Autos, Zeitungsständer oder einfältige Lehrer. Zu viele Faktoren trafen aufeinander, Tochter einer akademischen jedoch patriarchischen Familie, Kopftuch-Punk auf einem Schnösel-Gymnasium, Immigrant in der dritten Generation (ich habe gehört, die sind die Besten, lange Vorlaufzeit) und eine Übersensibilität und Verantwortungsbewusstsein für das Leid auf der Welt und die Klimaerwärmung. Glücklicherweise habe ich Geduld, Motivation und Inspiration in den Frauenbildern des Islam und in den Romanhelden meiner Jugend gefunden. Ich hoffe, durch meine Werke, diese Kraft und Inspiration weitergeben zu können. Außerdem habe ich inzwischen die richtigen Menschen getroffen und gelernt, mit den Unrichtigen umzugehen. Sie sind nicht so übermächtig, wie es sich manchmal anfühlt und durch Aufklärungsarbeit, Dialoge und persönliche Kontakte, in denen man sich der Lebensgeschichte des anderen bewusst wird, kann man die Dinge hin zum Positiven bewegen. Omm!
Das Interview führte Melanie Raabe. Be friendly! Meet me at http://www.facebook.com/mademoiselleraabe. Ganze Biographien von mir gibt’s auf http://www.geschenkbuch-deluxe.de.
Fotos 1 bis 4 von oben: Selbstporträts von Nilgün Akinci, Fotos 5 und 6 von oben: privat, Foto 7 von oben: Natalia Le Fay