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Michael, 72, Wiehl
Alles wirkliche Leben ist Begegnung
Bitte stellen Sie sich doch kurz vor. Wer sind Sie, was machen Sie?
Ich bin Michael Höhn und wurde am 22.10.1944 in Gießen geboren. Ich überlebte den schweren Bombenangriff am 6. Dezember 1944, weil meine Mutter eine „Vorahnung“ hatte. In Düsseldorf wuchs ich auf, studierte evangelische Theologie und später Sozialpädagogik. Als Vikar in Düsseldorf-Wersten engagierte ich mich gegen Mietwucher und unmenschliche Lebensbedingungen von ausländischen Arbeitern. Von 1971 bis 1979 war ich Gemeindepfarrer im Duisburger Arbeiterviertel Bruckhausen – einem „Sozialen Brennpunkt“. Von 1979 bis 2005 arbeitete ich als Berufsschulpfarrer am Berufskolleg in Gummersbach-Dieringhausen. Zusammen mit meiner Frau Monika lebe ich seit 1979 im oberbergischen Wiehl. Wir sind seit 1968 verheiratet und haben zwei erwachsene Töchter und vier Enkelkinder. Ostern 1993 rief ich gemeinsam mit meiner Frau und nicaraguanischen Freunden auf der Insel Ometepe im Großen Nicaraguasee das sozialmedizinische Ometepe-Projekt Nicaragua ins Leben. Wir besuchen dieses Projekt regelmäßig in jedem Jahr, und nehmen auf unseren Reisen auch interessierte Menschen mit. Über die Jahre hat sich so ein lebendiges Netzwerk Ometepe entwickelt. Ich bin Mitglied im Verband deutscher Schriftsteller (ver.di), Autor im Friedrich-Bödecker-Kreis e.V. und in der Landesarbeitsgemeinschaft für Jugend und Literatur NRW e.V.
Die „Helden“ meiner zahlreichen Buchveröffentlichungen sind häufig „Außenseiter unserer Gesellschaft“.
Was begeistert Sie an Ihrer Arbeit?
Vor allem, dass ich mit vielen unterschiedlichen Menschen zu tun habe, die mich neugierig machen und von denen ich sehr viel lerne. Das trifft auf meinen Beruf als Pfarrer zu, als auch auf meinen Beruf als Autor. Die Bücher und Geschichten, die ich geschrieben habe, haben alle – auf unterschiedlichste Weise – mit dem zu tun, was ich mit Menschen erlebt habe.
Was würden Sie als Ihre Berufung bezeichnen?
Als ich zehn Jahre alt war, hat mein Volksschullehrer mich am Ende des 4. Schuljahres gefragt, was ich denn mal werden wollte. Ich habe ihm geantwortet: Ich möchte Pfarrer werden, weil ich dann Menschen helfen kann. Woher diese Berufung kam, kann ich nicht genau sagen. Es lag nicht in der Familie. Mein Vater war Bankdirektor.
Was treibt Sie an?
Das Bedürfnis, mit allen Menschen guten Willens gemeinsam für mehr Frieden und Gerechtigkeit im Umfeld meiner Heimat, aber auch weltweit zu arbeiten.
Worauf sind Sie besonders stolz?
Das Wort Stolz passt nicht so recht in meinen persönlichen Wortschatz. Ich freue mich mehr darüber, wenn mir mit anderen gemeinsam etwas Gutes gelingt.
Welches war Ihre bisher interessanteste Reise?
Das war sicherlich die Reise zu unserer Silberhochzeit Ostern 1993 nach Nicaragua. Was sich aus dieser ersten Reise in eines der ärmsten Länder Lateinamerika entwickelt hat, hätte ich mir nie träumen lassen.
Was ist das Aufregendste oder Interessanteste, was Ihnen je passiert ist?
Als ich 16 Jahre alt war, spielte ich Posaune in einem Posaunenchor der Kirche und zugleich in einer Dixielandband. Bei einem unserer Auftritte in einem Düsseldorfer Keller am 15. Juni 1961 lernte ich meine heutige Frau kennen. Ohne sie wäre mein Leben sicherlich vollkommen anders und vielleicht weniger spannend verlaufen. Das ist die Kurzfassung…
Was ist die wichtigste Lektion, die Sie bisher gelernt haben?
Diese Lektion habe ich von einem meiner theologischen Lehrer, dem jüdischen Theologen Martin Buber gelernt: Alles wirkliche Leben ist Begegnung.
Haben Sie Vorbilder?
Ja, eine ganze Reihe: Jesus von Nazareth, Albert Schweitzer, Dietrich Bonhoeffer, Mahatma Gandhi, Martin Luther King – um nur die wichtigsten zu nennen.
Was inspiriert Sie?
Jeden Morgen um kurz nach 6 Uhr sitzen meine Frau und ich in unseren Sesseln und lesen uns gegenseitig aus einem oder zwei Bücher vor, die uns wichtig sind. Danach ergeben sich unglaublich konstruktive Gespräche über Gott und die Welt – und unser ganz persönliches Leben.
Was macht Sie glücklich?
Geliebt zu werden – von meiner Frau, meinen Töchtern und meinen Enkelkindern. Und von zahlreichen Menschen aus der Nähe und der Ferne – von Wiehl bis nach Nicaragua.
Haben Sie ein Lebensmotto?
Ich denke, dass der Satz von Martin Buber so etwas ist. Aber auch der Satz von Jesus hat mich sehr geprägt: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Der zweite Teil ist mir dabei sehr wichtig.
Was ist der Sinn des Lebens?
Einen allgemeinen für alle Menschen verbindlichen Sinn des Lebens gibt es für mich nicht. Jeder sollte ihn für sich selber suchen und finden, sagt eines meiner Vorbilder, Viktor Frankl. Für mich liegt er in dem, was ich weiter vorhin gesagt habe.
Infos zum im Interview genannten Projekt finden sich auf www.ometepe-projekt-nicaragua.de
Das Interview führte Melanie Raabe.
Fotos: privat
Richard, 42, Freising
„I’m not there“
Wie würdest du deine Kindheit und Jugend beschreiben?
Ein trostloser fragmentarischer Ablauf, eher einer Skizze ähnlich als dem Leben. Mein Vater war dem Alkohol nicht gerade abgeneigt. Sämtliche Verwandte und Bekannte erschienen mir merkwürdig. Eigenartige, verschrobene Gestalten, sehr konservativ. Ein immerzu herbstliches Landleben, alles immer unter Zwang. Bei uns wurden keine Bücher gelesen, der kulturelle Einfluss war nicht vorhanden. Hier wurde körperlich gearbeitet, nicht gelesen. Arbeit war überaus wichtig, eigentlich das Wichtigste überhaupt. Niemand wäre auf die Idee gekommen, ein Kind studieren zu lassen oder vorhandene Möglichkeiten auszuschöpfen. So war die Kindheit eine Melange aus Alpträumen und Schattengestalten, eigentlich stetigen Regentagen. Im Rückblick ein hässliches Tim-Burton-Szenario. Alles schief, vom Wind davon getragen. Nachts klopften die Gespenster an das Fenster, daran kann ich mich erinnern. Nicht symbolisch, sondern tatsächlich. Jene Gespenster aus dem Bauch.
Natürlich wollte ich diesem Leben entfliehen. Zur Anpassung neigte ich nie. Als Kind jedoch gibt es für eine Flucht nur wenige Möglichkeiten. Man setzt sich diesbezüglich auch mit dem Sterben auseinander. Dem Suizid, sozusagen. Und wenn man als Kind diesem Gedanken nahe kommt, blickt man in einen Abgrund und stellt relativ früh fest, wie lächerlich alles ist. Jeglicher Zwang. Als Jugendlicher musste ich mich in einigen Berufen versuchen. Das wollten meine Eltern so. Denn, wie gesagt, die Arbeit war das höchste Gut. Körperliche Arbeit, wohlgemerkt.
Leider verliert man dadurch eine Menge Zeit, zahlreiche Möglichkeiten. Die Wege sind vorbestimmt, und das Ausbrechen ein waghalsiges Unternehmen. Erst zu dieser Zeit fing ich an zu lesen. Mein Plan danach war eigentlich einfach: Bücher schreiben, um Zeit für das Leben zu gewinnen. Ich versuchte mich als Journalist im lokalen Bereich. Leider hat nichts davon tatsächlich funktioniert. Ein wenig später dann erlernte ich, eher aus Zufall und Hoffnungslosigkeit, den Beruf der Krankenpflege. Warum? Vermutlich weil die Arbeit am Menschen ebenso abseitig ist wie meine Träume, Leben und Sterben ganz nahe. Neue Reibungspunkte entstanden, da ich schwer, eigentlich kaum mit Hierarchien umgehen kann und will. Vielleicht reanimiere ich deshalb täglich das Kind in mir. Um die Gespenster zu vertreiben.
Du bist Autor. (Und zwar ein guter. Ich wünsche dir Ruhm und Ehre und all das.) Wann und unter welchen Umständen hast du mit dem Schreiben begonnen?
Wie schon erwähnt, begann das Schreiben eher als Befreiungsschlag. Der nicht glückte, aber dennoch einen Impuls freisetzte. Anfänglich als Imitation anderer Autoren. Es entstanden vorwiegend Kurzgeschichten. Man weiß ja, dass man in Deutschland mit Kurzgeschichten keinen Blumentopf gewinnen kann (was ich nach wie vor als äußerst merkwürdig empfinde), sie gelten als vergebene Mühe, als belanglose Fingerübung. Es zählt der Roman. Für längere Erzählungen fehlte mir später dann aber schlichtweg die Zeit. Vor allem Schichtdienst ist ja der Tod aller Kunst.
Dennoch hielt ich regelmässig Lesungen ab und schrieb Bühnen-Programme für mich selbst. Fragmentarische Szenenbilder. Meist mit Musikern, die dann die Texte untermalten. Gastierte in Buchhandlungen, auf kleinen Theater-Bühnen. Das fiel natürlich nicht sonderlich auf. Oft las ich nur für eine Handvoll Zuhörer. Wenn ich darüber nachdenke, hat sich das eigentlich nicht sonderlich geändert.
Dein Buch „Amerika Plakate“ ist bei einem kleinen, feinen Verlag erschienen und hat sehr gute Rezensionen bekommen. Worum geht es in dem Buch?
Verlust, Schuld und Erlösung. Liebe. Jene Themen, die unser Leben beeinflussen wie kaum andere. Aber auch das implizierte Thema, dass nichts vorhersehbar ist. Dass manche Wege unpassierbar sind und manche nur dunkel. Ich schätze Geschichten, die nicht klar verlaufen, die sich immer ein Geheimnis bewahren. Wir kennen immer weniger solche Erzählungen, leider. Heutzutage ist vieles glattgeschliffen, von jeglicher Nebenhandlung befreit. Eine phantastische Geschichte, magisch im besten Sinne von verrückt. Vermutlich nicht allzu einfach, aber das ist nicht sonderlich wichtig. Darf man das sagen? Vermutlich nicht, denn was nicht marktgängig ist, ist automatisch merkwürdig. Verschroben. Ich bin allerdings gern verschroben, muss ich zugeben. Schweifen wir diesbezüglich kurz ab: Schauen wir uns einmal einen Jim Jarmusch Film an. Nehmen wir Night on Earth. Ein wundervoller Film, den ich vermissen würde. Aber natürlich ein extrem verschrobener Film, nicht wahr? Aber dennoch erscheint mir dieser Film wichtiger als der Mittwochs-ARD-Abendfilm. In der Literatur jedoch erleben wir gerade jenes: Alles was merkwürdig ist, geht nicht oder bestenfalls sehr schwer. Das ängstigt mich zunehmend.
Die zugrunde liegende Kurzgeschichte mit dem gleichen Titel kann man sich – sehr schön gelesen von Katharina Wackernagel – anhören. Wie kam es zu dieser Zusammenarbeit?
An einem Winterabend sah ich mir eine Folge der wundervollen Serie „Bloch“ mit Dieter Pfaff an, Katharina Wackernagel spielt seine Tochter. Und ich fragte mich, wie es wohl sei, wenn sie „Amerika Plakate“ lesen würde. Am nächsten Tag schrieb ich ihre Agentur an. Die Kurzgeschichte gefiel Katharina auf Anhieb und so einigten wir uns relativ schnell. Letztendlich natürlich völlig absurd. Es gab weder ein Buch, geschweige denn einen Roman. Nur eine Kurzgeschichte von einem unbekannten Autor. Aber solche Dinge gefallen mir. Später dann wurde diese Aufnahme vom WDR ausgestrahlt, was mich sehr gefreut hat. Grundsätzlich hätte ich gern diese Aufnahme dem Buch beigelegt, was sich allerdings als zu kostspielig herausgestellt hat.
Was bedeutet dir das Schreiben?
Wir alle haben einen Traum. Suchen das versteckte Schlupfloch des Lebens. Um uns selbst Geschichten zu erzählen, wenn die Ostwinde zu kalt werden. Es ist tatsächlich eine schwere Frage, genau betrachtet. Warum tun wir Dinge? Was bedeuten sie? Weshalb lieben wir, weshalb hassen wir? Vermutlich tut man etwas, um Dinge zu verändern. Andere Wege gehen zu können. Mir würde das gefallen – was sich jedoch als unglaublich schwer herausstellt. Schwerer als jemals gedacht. Vermutlich schreibe ich auch, um die Gespenster der Vergangenheit in mir zu unterhalten, um sie zu besänftigen. Um dem Außenseiter in mir eine Gestalt zu geben, einen Namen. Mich zu solidarisieren mit den Verlorenen, den Zerbrochenen. Von ihnen zu erzählen. Vielleicht auch nur, um die Welt zu verstehen.
Was liest du?
Diese Frage ist relativ schwer zu beantworten, weil es lange dauern würde, sie befriedigend zu beantworten. Paul Auster schätze ich ungemein. Friedrich Ani ist meiner Meinung nach einer der besten deutschen Erzähler der Gegenwart. Seine Tabor-Süden-Romane glänzen. Ray Bradbury, Truman Capote, Harper Lee, Stephen King, Joe Hill, Neil Gaiman (zu lange unterschätzt), Friedrich Dürrenmatt, George Simenon, Richard Brautigan (völlig verkannt), Hunter S. Thompson, Charles Bukowski (unbedingt die Maro-Ausgaben kaufen!), Cornell Woolrich. Vor allem mag ich Bücher, die mich überraschen. Die ich vielleicht sogar nicht einmal beim ersten Lesen verstehe. So ging es mir bei Brautigans „Forellenfischen in Amerika“, aber dennoch liebe ich dieses Buch. Und ich liebe das Geheimnis, das darin steckt. Ich möchte nicht beiläufig unterhalten werden, denn dafür kann ich ja auch einen Fernsehkrimi ansehen. Ein Buch muss mich schlaflos machen – egal auf welche Art und Weise. „Shining“ von Stephen King gelingt das anders als Harper Lee.
Was machst du, wenn du nicht schreibst? Hast du einen day job? Was hast du gelernt oder studiert?
Momentan schreibe ich ausschließlich. Vermutlich wird das nicht mehr lange so sein, und ich werde wieder im Pflegeberuf arbeiten müssen. Denn schließlich haben wir nur ein Leben und das kann man nicht mit Warten verbringen. Vor allem braucht man ja auch ein wenig Geld. Ich arbeite gerne mit Schwerkranken, mit Sterbenden. Zuletzt habe ich auf einer Onkologie gearbeitet. Gefallen würde mir aber auch eine Tätigkeit in einer Psychiatrie. Natürlich wäre ich gerne Schriftsteller, würde damit gern ein wenig Geld verdienen. Momentan aber scheint mir dieses Unterfangen relativ aussichtlos. Folge-Publikationen sind nicht in Sicht, wenngleich auch „Amerika Plakate“ sehr positiv aufgenommen wurde. Ich hoffe immer und bete, aber der Himmel bleibt düster. Ein scheußliches Gefühl, vor allem weil ich ja nicht aus der Literatur-Branche komme. Es nicht studiert habe und deshalb auch nicht in diese Richtung arbeiten kann. Letztendlich bin ich ein Arbeiterkind, das gehofft hatte.
Gibt es noch andere Kunstformen neben der Literatur, die dich interessieren?
Meine Geschichten sind immer beeinflusst von Musik und Film. Gerade bei „Amerika Plakate“ ist das sehr deutlich zu erkennen. Ich spiele ein wenig Gitarre. Manchmal male ich, aber nicht sehr gut.
Was würdest du dir von der berühmten guten Fee wünschen?
Würde. Dass wir in Würde leben können. Und in Würde sterben dürfen.
Hast du Vorbilder? Helden?
Literarische Vorbilder sicherlich. Paul Auster und die merkwürdigen Gestalten, abseits vom Mainstream. Im Leben sicherlich Menschen wie die Geschwister Scholl. Aufrechte, unbequeme Leute.
Was inspiriert dich?
Abseitige Geschehnisse. Merkwürdige Bücher, eigenartige Filme. Tom Waits‘ Songs. Obdachlose, taumelnd auf einer Straße, die mich nach Gott fragen und ob es Jesus tatsächlich gibt. Lebensfragmente, alles unfertige. Zerbrochene Dinge inspirieren mich.
Was macht dich glücklich?
Bei Menschen zu sein, dich ich mag, schätze oder/und liebe. Glücklich macht mich auch jener zeitweise Hauch der Möglichkeit, das zu tun, was man möchte. Woran man glaubt. Einfache Dinge. Kaffee und Zigaretten. Ein guter Film. Ein gutes Buch. Charlie Parkers Musik um Mitternacht.
Hast du ein Lebensmotto?
I´m not there.
Oder ein Lieblingszitat?
No Direction Home.
Was ist der Sinn des Lebens?
Dass manchmal selbst der Präsident nackt dastehen muss. Sagt jedensfalls Bob Dylan.
Das Interview führte Melanie Raabe.
Foto: Deliah Lorenz.
Sophie, 25, Lübeck
„Offen, ehrlich und menschlich durch die Welt gehen“
Sophie! Was antwortest du, wenn dich ein Fremder auf einer Party fragt, „was du so machst“?
Meistens sage ich zunächst, dass ich Buchhändlerin („Das kann man lernen?“) bin, das klingt irgendwie halbwegs bodenständig. Wenn da ein Schimmer Interesse erkennbar wird, sage ich auch mal, dass ich einen Literaturblog betreibe, oft genug können die Gesprächspartner damit aber wenig anfangen und fragen auch nicht weiter. Irgendwas jedenfalls habe ich mit Literatur zu tun, das reicht den meisten.
Du lebst in Lübeck. Was magst du an der Stadt – und was so gar nicht?
Lübeck hat eine sehr schöne Altstadt, wenn auch mittlerweile durch den einen oder anderen Erlebnis-Shopping-Glasklotz verschandelt. Es lohnt eine Reise, wenn man nicht schon einmal dort war. Insgesamt gibt es mir hier aber bedeutend zu wenig Entfaltungsmöglichkeiten im kulturellen bzw. literarischen Bereich. Auch wenn die Stadt sich als Wiege der Manns und Günter Grass vielfach sehr offen präsentiert, sind die Lübecker insgesamt doch wenig experimentierfreudig. Für viele Veranstaltungen fahre ich nach Hamburg, weil es sie in der Form in Lübeck einfach nicht gibt. Und in Lübeck abends wegzugehen, bringt einen – so ohne Führerschein – eigentlich stetig in Konflikt mit den öffentlichen Verkehrsmitteln. Was das betrifft ist es doch eher eine süße Kleinstadt. Da werden halt früh die Bürgersteige hochgeklappt – und ich bin nun wahrlich kein Nachtmensch!
Wo kommst du ursprünglich her?
Geboren bin ich in Magdeburg, für mich noch immer eine der hässlichsten und unsympathischsten Städte, die ich jemals gesehen habe. Mit dem Umzug 2001 habe ich mich also in ästhetischer Hinsicht deutlich verbessert. Ich würde niemals nach Magdeburg zurückkehren, auch nicht für Geld und gute Worte.
Wie warst du als Kind?
Seltsam. Außenseiter. Niemals so richtig beliebt, aber auch nie so unbeliebt, dass es mich oder ich die anderen gestört hätte. Als Einzelkind war ich viel mit mir allein. Hing über Büchern. Wenn ich das jetzt so lese: Ich war ein richtiges Klischeekind, was Komischsein betrifft, bloß dass es dafür früher noch keinen hippen Begriff gab.
Und als Jugendliche?
Ein Alptraum; ich bin auch ganz froh, dass ich nicht meine eigene Mutter sein musste, ich würde wohl auf entbehrungsreiche und stressige Jahre zurückblicken. Ich war jetzt nicht unbedingt Rebell, aber doch sehr schwierig, für mich selbst und mein Umfeld aber gleichermaßen – so hat sich das vielleicht ein bisschen ausgeglichen.
Ich kenne dich vor allem als leidenschaftliche Literatur-Bloggerin. Was hat deine Liebe zur Literatur entfacht?
Eine Frage, die ich immer schwer beantworten kann, weil ich mich an keine Zeit erinnere, in der Bücher nicht elementarer Bestandteil meines Alltags waren. Ich habe als Kind – und da konnte ich noch nicht lesen – sogar ein Buch derart geliebt, dass ich es auswendig konnte. Wort für Wort. Ich schätze, es ist mir einfach einerseits vorgelebt worden, andererseits womöglich auch ein Stück vererbt. Mein Vater, zu dem ich allerdings nie Kontakt hatte, ist studierter Kultur– und Literaturwissenschaftler, womöglich ist irgendwas davon in mir verwirklicht.
Was bedeuten dir Bücher?
Sehr viel, weil sie in dem, was sie bieten, so vielseitig sind. Sie können mich gut unterhalten, sie können meinen Horizont erweitern, sie können mich ganz profan – deshalb aber nicht minder bedeutsam – etwas lehren, sie können mich meinen Alltag und mein Leben vergessen lassen. Und ich finde es schön, dass ich mich nicht auf eine dieser „Funktionen“ von Literatur beschränken muss. Damit täte ich den Büchern ja Unrecht. Was auch der Grund dafür ist, dass ich so manchen Literatursnobismus eher anstrengend finde. So Leute, die einen Unterhaltungsroman bloß mit der Kneifzange anfassen oder ein schwierigeres Buch nach drei Seiten zuklappen, weil es ihnen zu anstrengend ist. Ich finde es zwar manchmal nervtötend, größtenteils aber großartig, dass mir die Bücher niemals ausgehen werden, solange ich lebe. Weil es noch so viel gibt, was ich wissen möchte.
Du sagst, dass du insbesondere das Abgründige und Abseitige in der Literatur magst. Welche Bücher oder Autoren fallen dir dazu spontan ein?
Im ersten Moment überraschenderweise Klassiker wie ,Dr. Jekyll & Mr.Hyde‘, oder ,Frankenstein‘, die ja trotz ihres etwas fantastischen Ansatzes sehr weltliche Entwicklungen thematisieren – ich schätze es aber auch in Gegenwartsliteratur, wenn sie sich Themen widmet, die sonst in Gesprächen aufgrund ihres unangenehmen Beigeschmacks eher schnell unter den Teppich gekehrt werden. Psychische Erkrankungen, Armut, Vereinsamung, Gewalt, Verfall – sowas zieht mich oft magisch an. Nicht nur in der Literatur. Nicht umsonst bin ich ein sehr großer Hitchcockfan. Mich interessiert, wie Menschen funktionieren bzw. was geschieht, wenn sie nicht mehr funktionieren.
Eines meiner Lieblingsbücher ist und bleibt seit Jahren „Vincent“ von Joey Goebel, weil ich diesen leicht zynischen Blick auf Unterhaltungsindustrie und Künstlerdasein sehr gelungen fand. Was macht mich zum Künstler? Ist es mein Leid? Wenn ja, muss ich jetzt mein ganzes Leben lang leiden? Zum Thema Leid auch einer meiner Dauerbrenner: „Anleitung zum Unglücklichsein“ von Paul Watzlawick. Trotzdem es schon so alt ist ein fantastisches Buch darüber, wie man sich selbst so richtig unglücklich machen kann. Oftmals ohne es zu bemerken, nur mit unseren Annahmen über die Welt, die Menschen in ihr und uns selbst. Wenn man dieses Buch liest, lacht man drüber, bemerkt aber an vielen Stellen Parallelen zu eigenen Unarten. Ich bin außerdem – ohne da jetzt ein Buch gesondert rausgreifen zu können – eine große Verehrerin Max Goldts. In Gänze. Sogar so sehr, dass ich zwei T-Shirts aus dem Rumpfkluft-Shop von Katz & Goldt habe. (http://www.katzundgoldt.de/rumpfkluft.htm)
Und ich verehre Sherlock Holmes. Und zwar nicht den coolen Zeitgemäßen.
Saša Stanišić. Ein ungeheuer sympathischer Typ – und „Vor dem Fest“ habe ich geliebt.
Vornehmlich Film und Musik. Bei Filmen bin ich allerdings seltsam, ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal im Kino war. Und mein Interesse an aktuellen Blockbustern hält sich auch irgendwie in Grenzen. Ich liebe diese richtig alten Klassiker, Screwballkomödien wie „Leoparden küsst man nicht“ oder Großartigkeiten wie „Die zwölf Geschworenen“. Was Musik anbelangt, so liebe ich Liedermacher und Chansoniers. Deshalb schreibe ich für „Ein Achtel Lorbeerblatt“ (http://einachtellorbeerblatt.wordpress.com/) und bin seit kurzem Jurymitglied der Liederbestenliste. Man findet mich also höchstwahrscheinlich auf Konzerten von Bodo Wartke und Sebastian Krämer … oder bei einem Weißwein mit Musik von den Beatles, Bob Dylan oder Johnny Cash.
Ich fand es sehr aufregend, als ich dieses Jahr Bodo Wartke persönlich von Angesicht zu Angesicht interviewen durfte, aber ob das das Aufregendste war, was mir je passiert ist .. – ich glaub nicht. Da ich generell ein irgendwie eher nervöser Mensch bin, ist für mich vieles aufregender als für andere.
Vorbild nicht, aber Menschen, die ich für ihr Tun und Lassen sehr bewundere. Oben genannte Musiker und solche wie z.B. Georg Kreisler. Generell sind mir aber Menschen Vorbilder, die offen, ehrlich und menschlich durch die Welt gehen. Idealisten. Leute mit Profil und Ideen.
Nein. Ich hab auch nie gute Vorsätze an Silvester.
Kunst, Kultur, Menschen und das Atmen so an und für sich.
Ich bin fraglos glücklich!
Sophies Blog findet sich hier: http://literatourismus.net/
Das Interview führte Melanie Raabe.