Nina, 30, Istanbul

„Ich glaube daran, dass alles, was wir tun, sich in kleinen Wellen fortpflanzt und andere Ereignisse und Entscheidungen beeinflusst.“


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Du bist kürzlich von Köln nach Istanbul gezogen. Warum?
Für die Liebe und das Abenteuer, den Alltag neu zu lernen. Und weil ich dort mal ein bisschen studiert habe und nun gern das Leben in Istanbul unter realen Bedingungen testen wollte. Das gute Essen und die vielen spannenden Leute stehen auch auf der Liste der Umzugsgründe. Ebenso die Istanbuler Dämmerung, die Katzenhundedelfinemöwen, das türkise Wasser des Bosporus, die magnetische Kraft, die dieser glitzernde Moloch auf mich und so ca. 17 Millionen andere Menschen ausübt. Erwähnte ich schon die zwei gigantischen Brücken, die nachts in Regenbogenfarben blinken?

Wie lebt es sich in der Stadt, in diesen turbulenten Zeiten?
Es war wie Achterbahn-Fahren, jetzt ist es ein bisschen wie der Frosch in dem Glas mit dem Tauchsieder. Man überlegt, wie lange es noch dauert, bis es zu heiß wird. Im Grunde ist aber alles irgendwie alltäglich und die Leute um mich herum machen irgendwie weiter, sind aber (so hoffe ich jedenfalls) mit offeneren Augen, Ohren und Herzen unterwegs, was die Probleme und die Möglichkeiten im Umgang miteinander angeht. Das mag ein wenig resigniert klingen, aber was im Land seit den Gezi-Protesten passiert ist, war keine Revolution, sondern das Aufkommen der ersten großen zivilen Protestbewegung. Da wurden keine Systeme auf den Kopf gestellt und Paläste gestürmt, sondern Brücken gebaut und Ideen ausgetauscht. Das Entsetzen, die Wut und der Schmerz über die unglaubliche Gewalt, die den Demonstrierenden angetan wurde, hallt immer noch in unseren Köpfen wider und ich hoffe, dass aus diesem Echo irgendwann reflektierte Entscheidungen werden, die einen positiven Einfluss auf die Zukunft des Landes haben.


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Unterscheiden sich deine Kölner von deinen Istanbuler Freunden?
Ja. Das liegt aber weniger daran, dass die einen in Köln und die anderen in Istanbul wohnen. Ich habe meinen Istanbuler Freundeskreis auf eine ganz andere Weise erschlossen als den Kölner Freundeskreis. Dort war und bin ich immer noch die Nicht-Türkin, die sich notgedrungen meistens auf Englisch unterhält. Diese neutrale Zwischensprache ist eben genau das: eine Zwischensprache und nicht die gemeinsame Muttersprache, in der man nach Lust und Laune herumtoben kann beim Reden, Kennenlernen, Freundschaften knüpfen. Ich werde oft noch als Gast denn als Stadtbewohnerin wahrgenommen, als eine, die Zwischenstation macht. Trotzdem gibt es auch in meiner neuen Heimat Menschen, die mich seit mehreren Jahren kennen und die mir nahe stehen, aber ohne ausreichende Englisch-Kenntnisse auf beiden Seiten wären die Freundschaften vielleicht nie so zustande gekommen.

Welches ist dein Lieblingsort in Istanbul und welches war dein Lieblingsort in Köln?
Die Holzbänke auf der Sonnenseite der Fähren sind immer ein guter Ort in Istanbul. In Köln: die Baustelle Kalk. Da sprudelt Herzblut in jeder Ecke!

Du hast hin und wieder gemodelt. Hast du mal mit dem Gedanken gespielt, eine richtige Karriere daraus zu machen?
Vielleicht als Jugendliche mal. Dieses ganze Brimborium rund um schmale Taillen, schöne Profile und die berüchtigte thigh gap ist aber wahnsinnig einschüchternd und obwohl ich mich hin und wieder gern selbst inszeniere, habe ich wirklich Probleme, für jedes Objektiv immer 100% präsent zu sein und vor allem die Kontrolle über mich an Fremde abzugeben. Dann lieber ab und zu mit Freunden für Freunde und in Rollen, in denen ich mir selbst auch gefalle und genüge.


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Jedes deiner Outfits ist streetstyleblogtauglich. Welche Rolle spielt Mode in deinem Leben?
Stimmt ja gar nicht. (lacht) Trotzdem danke. Ich mag Mode, weil sie verkleidet. Sich seine Außenhülle selber zusammenstellen zu können, ist doch ein unglaublich vielseitiges Instrument, um sich zu verstecken oder zu präsentieren. Ich bin ein bisschen zu sehr Material-Fetischistin und halte wenig von dicken Labels oder monatlich wechselnden Billigkollektionen, darum such ich mir meine Klamotten lieber in Second-Hand-Läden zusammen. Sehr viel mehr ist bei meinem ständig leeren Konto eh nicht drin momentan.


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Was hast du studiert?
Medienwissenschaft mit Nebenfach Medienrecht. Der totale Spagat zwischen zwei akademischen Planeten! Jetzt bin ich fertig, habe den Bachelor of Arts in der Tasche und kann die freigewordenen Hirnkapazitäten wieder auf andere Sachen verwenden.

Auch auf die Gefahr hin, wie Tante Helga zu klingen, die dir diese Frage auf einem Familienfest stellt…: Wie siehst du deine berufliche Zukunft? „Was willst du mal werden, wenn du groß bist?“
Wann ist denn „groß“? Ich bin jetzt 30 und hab immer noch keinen richtigen „Beruf“. Ich schaffe gern Strukturen und Netzwerke aus Menschen und Ideen, mit denen ich dann Projekte realisiere. Nebenher schreibe ich viel zu selten, aber gern kurze Sachen, längere Sachen, Artikel und schlimme Wortwitze. Ich kämpfe nach wie vor gegen meine hyperkritische innere Pessimistin an, die immer zuerst die Probleme und dann die Möglichkeiten sieht. Wenn ich es mir aussuchen könnte, dann möchte ich ab jetzt und so lange wie möglich meine finanzielle und berufliche Unabhängigkeit in Balance halten können. Die beiden Aspekte schließen sich leider noch viel zu oft aus.

Du bist eine ziemlich umtriebige Person. Auf was von allem, was du bisher so gemacht, angeschoben, auf die Reihe gekriegt hast, bist du so richtig stolz?
Zusammen mit meiner Schwester habe ich mal innerhalb sehr kurzer Zeit genügend Geld gesammelt, um dem Familienmitglied einer guten Freundin eine lebenswichtige Operation zu finanzieren. Ich denke zwar nach wie vor, dass das nicht unsere Leistung alleine war (immerhin haben fast 200 andere Menschen mitgeholfen), aber es hat mir sehr viel bedeutet, dass das geklappt hat. Und mein erster richtiger Artikel ist in der SPEX erschienen, das hat mich wirklich gefreut.

Mit wem – egal ob unrealistisch, ob prominent, längst tot oder wasauchimmer – würdest du dich gerne mal bei einem Bier unterhalten?
Aus einem Meer der unendlichen Möglichkeiten wähle ich die, die mir gleichzeitig am nächsten stehen und unerreichbar sind. Meine vier inzwischen verstorbenen Großeltern. Und mit dem ebenfalls verstorbenen Vater meines Freundes, den ich leider nie kennengelernt habe.

Wem – egal ob unrealistisch, ob prominent, längst tot oder wasauchimmer – würdest du gerne mal mit der inzwischen geleerten Bierflasche eins über die Rübe ziehen? Oder wahlweise, falls du Pazifistin bist, zumindest mal massiv die Meinung sagen?
Menschen ohne Empathie – mich eingeschlossen. Ich wünsche mir die Welt nicht als ein kuscheliges Miteinander, in dem sich alle lieb haben, aber wenn man seine Entscheidungen von den Monstern Angst und Egoismus treffen lässt, kann einfach nichts Gutes dabei herauskommen.

Was inspiriert dich?
Zufälle, die keine sein können. Enthusiastische, talentierte Menschen. Farbverläufe und glitzernde Dinge. Rohe Materialen von Holz bis Tomate.



Was macht dich glücklich?
Schon wieder die Zufälle, siehe oben. Diesem einen ganz besonderen Menschen in die Augen schauen. Unerwartet freundliche, hilfsbereite Menschen. Sachen selber herstellen. Und, ganz seltsam, aber es bereitet mir Vergnügen, angebrochene Packungen zu leeren und zu entsorgen.

Hast du ein Lebensmotto oder eine Lebensphilosophie?
Ich glaube daran, dass alles, was wir tun, sich in kleinen Wellen fortpflanzt und andere Ereignisse und Entscheidungen beeinflusst. Wenn ich also eine Welle Gutes, Wichtiges, Großes rausschicke, kommt vielleicht irgendwann von irgendwo eine andere Welle zurück. Darauf zu warten wäre aber unsinnig, weil ich ja nicht mal weiß, in welche Richtung ich Ausschau halten muss. Dieses Prinzip ist lustigerweise auch das Konzept, nach dem eine kleine App namens Rando funktioniert. Man soll Fotos machen und sie in die Welt verschicken. Die Empfänger werden per Zufallsprinzip ermittelt, die Absender sehen lediglich, wo in der Welt das Bild gelandet ist. Für jedes abgeschickte Bild erhält man selbst kurz darauf ein anders Bild von irgendwoher auf der Welt. Im echten Leben geht das natürlich alles etwas weniger paritätisch, gerecht und kartografiert zu. Deswegen: einfach immer weiter Wellen machen!

Was ist das Interessanteste, was dir jemals passiert ist?
Ich hoffe, da kommt noch so einiges. Drei Tage vor einem veritablen Volksaufstand nach Istanbul zu ziehen steht aber auf einer Skala von 1 bis Wahnsinn schon ganz weit oben.

Das Interview führte Melanie Raabe. Be friendly! Meet me at http://www.facebook.com/mademoiselleraabe. Oder auf http://www.twitter.com/melraabe

Alle Fotos: Christian Faustus Photography. http://www.christian-faustus.de.
Video: Wanderlust by Emircan Soksan via Youtube.

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