Nilgün, 24, Berlin

„Mich faszinieren Dinge,
die ‚out of the box‘ gedacht sind.“

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Nilgün! Du hast kürzlich geheiratet. Herzlichen Glückwunsch!! Und im Anschluss gleich eine vielleicht völlig dämliche Frage, aber: Warum?
Vielen Dank! Als ich meinen Mann bei „World of Warcraft“ kennengelernt habe, dachte ich auch noch nicht, dass wir mal heiraten würden. Die Füllung für die Worthülse „Ehe“ kommt für mich aus der islamischen Lehre. Im Islam ist die Ehe kein Sakrament, das sich erst durch den Tod eines Ehepartners aufhebt, sondern die Verbundenheit zweier Menschen vor Allah, der so nebenbei gesagt der gleiche Gott Abrahams, Moses‘ und Jesu‘ ist. Es ist zwar die unliebsamste himmlische Erlaubnis, aber es gibt sie, die Erlaubnis zur Scheidung. Trotzdem muss ich sagen, tut es ziemlich gut in Zeiten des „schneller, besser, sexier“ und des Beziehungskonsums, sich auf eine Person voll einlassen zu können und von der Qualität der Beziehung zu leben. Uns wird täglich von der Werbung suggeriert, hey es geht noch was, du besitzt noch nicht alles um glücklich zu sein, und das hat sich stark auf die Partnerschaften unserer Kultur ausgewirkt. Verbindlichkeit geht auch ohne Ja-Wort. Aber mit der islamischen Ehe haben wir hoffentlich Gottes Segen eingeholt und zusätzlich eine fette Party geschmissen. Außerdem ist die Ehe so out, dass sie schon fast wieder in ist. Auf unserer Hochzeit war Stefans Großvater der Einzige, der den bräutigamschen Zylinder altmodisch fand, die anderen haben begeistert nach dem neuen „It-Item“ gefischt.

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Du bist vor einigen Monaten von Köln nach Berlin gezogen. Klare Sache: Pech für Köln! Wie gefällt es dir in der Hauptstadt?
Hier fluktuiert alles, und man trifft so viele unglaubliche und talentierte Menschen. Berlin ist ein interessantes Phänomen, die Stadt bietet nicht unbedingt die besten Studien- oder Arbeitsplätze im Land, aber die Menschen die es hierher verschlägt, kommen wegen ihrer Interessen und ihrem Lebenshunger. In anderen Großstädten wie London oder Paris bestimmt den Zuzug viel mehr die Arbeitssuche. Unfreiwilligerweise hat sich die Natur um Berlin herum gut erhalten, und ich kann es nicht fassen in Brandenburg noch auf Hirsche, Füchse und eine halbwegs intakte Flora zu treffen. Wenn irgendwo ein Bach plätschert, spricht es wohl meine innere Nymphe an.

Du bist eine Frau mit vielen Talenten und Interessen. Vor allem aber machst du großartige Fotos. Was inspiriert dich?
Mich haben früher Romane inspiriert, in denen es starke Frauenbilder und interessante, abweichende Männerrollen gibt. Lesen ist immer noch ein wichtiger Quell von Inspiration für mich, auch asiatische Filme, das Leben meiner Mitmenschen und vor allem die Natur und Mythologien, in denen sie gepriesen wird. Natürlich muss es zu all dem einen guten Soundtrack geben. Meine Fotos geben eine Sehnsucht nach der Natur wieder, wie ich es auch bei vielen anderen zeitgenössischen Künstlern nachempfinden kann. Ich finde es irgendwie ironisch, weil sich dieses Phänomen alle paar Jahrzehnte oder -hunderte wiederholt, aber ich kann mich dem trotzdem nicht entziehen. Meine erste Ausstellung war meiner in jungen Jahren entdeckten „Floral Fixation“ gewidmet.

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Welche Fotografen bewunderst du?
Das Zeitalter der Social Networks hat die Hierarchien abgeflacht und man erfährt viel mehr von jungen Künstlern. Es gibt so viele Fotografen, die wunderbare Arbeiten haben, und ich finde es manchmal faszinierend, wie Qualität und Popularität nicht Hand in Hand zu gehen scheinen. Um einige zu nennen, die vielleicht weniger bekannt sind: Jingna Zhang kommt aus Singapur und ist eine großartige und vielseitige Fotokünstlerin. Interessant finde ich auch, dass sie ebenso wie ich ein Gamer ist und in ähnlichen Dingen Inspiration findet. Kiki Xue ist ein chinesischer Fotograf, Elizaveta Porodina eine russische Fotografin, und Chen Man stammt ebenfalls aus good old Beijing. Außerdem tummeln sich in Krakau besonders viele junge, begabte Analogfotografen. Ich hab demnächst mal vor, dahin zu fahren und mir das Nest anzuschauen.

Hast du noch andere künstlerische Vorbilder?
Botticelli, Dante Gabriel Rossetti, Gustav Klimt, alles Leinwandkünstler vergangener Epochen. Aus der Filmwelt begeistern mich seit jeher Wong Kar Wai, Ang Lee und vor allem Hayao Miyazaki mit seinen Zeichentrickfilmen, in denen man ewig Kind sein und in Fantasie und Weisheit gleichermaßen schwelgen kann. Die Modewelt hat auch einen starken Einfluss auf meine Arbeit und Denkweise, aber nicht direkt die akuten Konsumwellen, die jede Saison neu einschlagen. Um konkret etwas zu nennen: Alexander McQueen, Vivienne Westwood und internationale Kostümgeschichte. Einige Kostüme von den Shootings stammen von mir.

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Für viele Menschen mit vielfältigen Talenten ist es schwer, sich für einen Beruf zu entscheiden. Was ist dein Plan?
Meinen Master machen und dann schauen, was der Arbeitsmarkt bietet. In der Zwischenzeit habe ich vor, ein Dutzend Video und Fotoprojekte umzusetzen, damit ich mich nicht der Schande hingeben muss, dass mein Notizbuch voller ist, als mein Portfolio. Mir gefällt es, finanziell nicht von meiner kreativen Arbeit abhängig zu sein, dann kann ich mich ihr besser hingeben und hoffentlich ehrliche Werke schaffen.

Gibt es irgendein neues Projekt, eine Seite oder irgendwas sonst, das du hier gerne promoten würdest? Fire away!
Da wir so viel über den Glauben geredet haben, würde ich gerne eine Kampagne zur institutionellen wie kulturellen Akzeptanz des Islam in Deutschland vorstellen. Mit „Juma“ (Jung, Muslimisch, Aktiv) arbeiten wir an einem Videobeitrag zum Thema, der kurz vor der Bundestagswahl richtig durchstarten wird. Watch out! http://www.juma-projekt.de/
Und meine Internetseiten! http://www.nilgunakinci.com ist noch im Aufbau und hat so gesehen noch kein Release erfahren.
Dann gibt es noch http://www.nilgunakinci.tumblr.com/ und meine Facebook-Seite
http://www.facebook.com/nilgunakinciphotographer. Like, like, like!

Deine Familie kommt aus der Türkei. Spiegelt es sich in deiner Kunst, dass du in zwei unterschiedlichen Kulturen zu Hause bist?
Das kann gut sein. Aber wie das so ist, sehe ich den Wald vor lauter Bäumen nicht und stecke zu sehr in meiner Haut, um das zu beurteilen. Ich beschäftige mich mit vielen transkulturellen und Genderthemen, was ich – surprise, surprise – auch studiere. Mich faszinieren Dinge, die „out of the box“ gedacht sind. Das kommt sicher von meiner Macke, mich partout nicht in eine Schublade stecken zu lassen. In zwei Kulturen groß zu werden kann zwei Dinge bedeuten: entweder man fühlt sich keiner der beiden zugehörig und zurückgewiesen oder man sieht es als die größte Chance des Jahrhunderts und als Vorsprung in der Globalisierung der Welt.

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Auf der Facebookseite „Muslima Pride“ hast du kürzlich erläutert, was es für dich bedeutet, Muslimin zu sein. Hat mich – ich bin nicht-praktizierende, evangelische Christin – ziemlich beeindruckt, der Text. Wie hat dich dein Glaube geprägt?
Ich habe in meiner Jugend ein Kopftuch getragen, die Zeit, in der andere Mädchen grelles Make Up und Flirts mit Jungs ausprobieren. Es war toll, muss ich sagen, ich hab mich gefühlt wie Shams-ad-Din, ein Sufi auf Wanderschaft, spirituell unglaublich reich. Aber es macht dich ziemlich früh und unvorbereitet zur Zielscheibe der Gesellschaft und seltsamerweise in irgendeinem Stockholm-Syndrom-Verdreher auch zu der der eigenen Familie, wie es mir aus anderen muslimischen Familien in Deutschland auch zu Ohren gekommen ist. Irgendwann war der Zeitpunkt gekommen, an dem ich diese Zielscheibe abgelegt hab und mich in die Anonymität der Kopftuchlosigkeit geflüchtet habe. Es mag seltsam klingen, aber die Gesellschaft hat es mir nicht gegönnt, mit einem Stück Tuch anders zu sein. Wieso wird in unserer Gemeinschaft so etwas intimes wie die Wahl der Kleidung überhaupt in Frage gestellt? Ich habe inzwischen meinen Frieden damit geschlossen, kann es aber nicht akzeptieren, dass anderen Frauen solch eine Diskriminierung widerfährt. Mein Glaube begleitet mich in meinem Alltag und bei besonderen Anlässen, aber ich würde sagen, dass er für meine Mitmenschen erst im Monat Ramadan auffällt, der dieses Jahr wieder in zwei Wochen eintrifft. Ich freue mich darauf, ganz viele Freunde und meine Familie zum Iftar – dem Fastenbrechen nach Sonnenuntergang – einzuladen und mit ihnen dieses Erlebnis zu teilen. Offenheit gegenüber den Welteinstellungen meiner Mitmenschen ist für mich essentiell, schließlich kennt die Offenbarung viele Wege, sich den Menschen zu zeigen.

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Gender und Feminismus sind für dich – genau wie für mich – große Themen. Was bedeutet es für dich, eine Frau zu sein? Hier und heute, 2013, in Berlin?
Ich habe mir nach harter Arbeit eine Sexismus-freie-Zone geschaufelt, in der ich mich als Frau wohl fühle. Aber ich sehe, wie andere noch daran zu leiden haben, und solange irgendjemand diskriminiert wird, dürfen wir nicht aufgeben, die Gesellschaft den darin Lebenden menschenwürdig anzupassen. Sexismus wird häufig hinter anderen Vorwänden versteckt, wie Arbeitsmoral, Ausländerfeindlichkeit, pure Gewalt, „die Natur der Dinge“ – dass ich nicht lache. Aber irgendwann werden die Ausreden ausgehen, und bis zu diesem Zeitpunkt müssen wir dahinter stehen.

Natalia Le Fay

Sich mit Feminismus und damit automatisch auch mit Sexismus zu befassen, hat für mich lange Zeit bedeutet, eigentlich ständig wütend zu sein. Wie geht es dir damit?
In meiner Jugend war ich rasend vor Wut angesichts der Ungerechtigkeiten, denen ich selbst ausgesetzt war und der andere ausgesetzt waren, wie ich als Betroffene bemerkt habe. Ich frage mich, warum ich nie etwas umgestoßen habe, Autos, Zeitungsständer oder einfältige Lehrer. Zu viele Faktoren trafen aufeinander, Tochter einer akademischen jedoch patriarchischen Familie, Kopftuch-Punk auf einem Schnösel-Gymnasium, Immigrant in der dritten Generation (ich habe gehört, die sind die Besten, lange Vorlaufzeit) und eine Übersensibilität und Verantwortungsbewusstsein für das Leid auf der Welt und die Klimaerwärmung. Glücklicherweise habe ich Geduld, Motivation und Inspiration in den Frauenbildern des Islam und in den Romanhelden meiner Jugend gefunden. Ich hoffe, durch meine Werke, diese Kraft und Inspiration weitergeben zu können. Außerdem habe ich inzwischen die richtigen Menschen getroffen und gelernt, mit den Unrichtigen umzugehen. Sie sind nicht so übermächtig, wie es sich manchmal anfühlt und durch Aufklärungsarbeit, Dialoge und persönliche Kontakte, in denen man sich der Lebensgeschichte des anderen bewusst wird, kann man die Dinge hin zum Positiven bewegen. Omm!

Das Interview führte Melanie Raabe. Be friendly! Meet me at http://www.facebook.com/mademoiselleraabe. Ganze Biographien von mir gibt’s auf http://www.geschenkbuch-deluxe.de.

Fotos 1 bis 4 von oben: Selbstporträts von Nilgün Akinci, Fotos 5 und 6 von oben: privat, Foto 7 von oben: Natalia Le Fay

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